Von der Leinwand auf die Bühne …

„vincent will meer“ am Landestheater

 

g.WaSa     -     Detmold     -     Es hat auch Nachteile, wenn man zu oft im Theater sitzt – zum Beispiel findet man kaum mehr Zeit, auch mal ins Kino zu gehen. So konnte ich nur hilflos gucken und „Aha“ sagen, wenn ich in letzter Zeit zu Bekannten davon sprach, demnächst im Theater „vincent will meer“ anzusehen, und wenn dann unweigerlich kam: „Oh ja – toller Film!“

 

Mehrfache Angebote, das Versäumte nachzuholen („… hat meine Tochter auf DVD; bring ich dir mit …“) habe ich bisher (!) ausgeschlagen. Denn wenn ich normalerweise auch alles dransetze, vor einem Theaterbesuch das Stück intensiv zu lesen – bei einem Film ist das etwas ganz anderes – da hätte man dann Bilder im Kopf, von denen sich schlechter abstrahieren ließe als von einem geschriebenen Text.

 

Und so saß ich also am Freitagabend völlig unvorbereitet in der Detmolder Premiere … naja, völlig unvorbereitet … die Pressemappe hatte ich natürlich schon aufmerksam gelesen, wusste also, worum es geht, und hatte mir sogar sagen lassen, was ein Tourette-Syndrom ist; für alle die, die den Film auch nicht kennen: eine genetisch bedingte, also unheilbare Nervenkrankheit, die sich vor allem in „Tics“ äußert, und zwar körperlich (Zuckungen und ähnliche unwillkürliche Bewegungen) und auch verbal (unmotiviertes Hervorstoßen von Lauten, gerne von Obszönitäten). "Ich hab einen Clown im Kopf, der mir zwischen die Synapsen scheißt" - so drückt Vincent als Betroffener das aus.

 

Und worum ging’s nun?

 

Die Geschichte

 

Vincent (Robert Oschmann) leidet seit dem zweiten Schuljahr an Tourette. Die Ehe seiner Eltern ist (darüber?) zerbrochen; die Mutter wird zu seiner einzigen Bezugsperson. Als die stirbt, ist der Vater gerade mitten im Wahlkampf für ein politisches Mandat – da würde der „ficken“ und „Fotze“ grölende Sohn doch ziemlich stören. Also wird er ins Sanatorium gesteckt, wo er auf den Zwangsneurotiker Alex (Hartmut Jonas) und die magersüchtige Marie (Karoline Stegemann) trifft. Als ihnen die Autoschlüssel der Ärztin Dr. Rose  in die Hände fallen, hauen sie ab. Mit der Fahrt nach Italien, ans Meer, will Vincent auch den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllen: ihre Asche in einer Bonbondose ist immer dabei.  Frau Dr. Rose (Kerstin Klinder) und Vincents Vater (Jürgen Roth) verfolgen das Trio, was immerhin ein Gutes hat: der Vater, der bisher lediglich Angst vor der Wirkung seines Sohnes auf die Umwelt gehabt hat („ … was los ist, wenn das raus kommt …“), fängt unter dem professionellen Einfluss der „hervorragenden Therapeutin“ Dr. Rose an, sich auch Sorgen um seinen Sohn als Person zu machen. Dagegen ist weniger klar, was letztendlich bei der Reise der Jugendlichen herauskommt. Natürlich verliebt sich Vincent unterwegs in Marie, aber am Ende löst er sich von ihr (verlässt sie?), nicht ohne sie anzuflehen: „Bitte finde mich!“ - Ob sie seine Liebe erwidert oder ob sie doch nur ihre eigene Magersucht lieben kann, bleibt letztlich offen – so, wie offen bleibt, ob sie am Schluss überlebt oder ob sie sich tatsächlich zu Tode gehungert hat.  (Im Film – habe ich inzwischen nachgelesen – landet Marie im Krankenhaus und Vincent macht sich auf den Weg zu ihr).

 

Die Darsteller

 

Die Personenkonstellation dieser Geschichte – einerseits „drei sozialinkompetente Jugendliche auf Reisen“ (Dramaturg Katzschmann), andererseits das verfolgende Duo aus selbstgefällig-egozentrischem Politiker und um das Wohl ihrer Patienten besorgter Therapeutin – ist natürlich ein Geschenk an die Darsteller, die denn auch alle fünf dieses Geschenk dankbar nutzen und ihre so unterschiedlichen Charaktere herrlich ausspielen! Allen voran beeindruckt Robert Oschmann: der scheint seine Tics derart verinnerlicht zu haben, dass man sich als Zuschauer fast schon Sorgen macht, ob er die nach Feierabend so einfach wieder ablegen kann.

 

Die Nebendarsteller sorgen schon mit ihrem Outfit für kleine Highlights am Rande: Joachim Ruczynski als Pfleger mit blondem Pferdeschwanz oder Stephan Clemens als kaffeekochender Tankwart mit Elvis-Mähne …

 

Von der Leinwand auf die Bühne …

 

Ein echtes „Road-Movie“, dessen Schauplätze sich von irgendwo in der deutschen Provinz über die Alpen hinweg bis an die italienische Küste erstrecken, dessen Handlung sich dagegen zu großen Teilen in der Enge von zwei Autos abspielt – wie soll das auf der Bühne funktionieren? Das Leitungsteam hat im Vorfeld gar kein Hehl daraus gemacht, wie mühsam die Suche war nach „theatralischen Mitteln, um sich vom Film zu entfernen“. – Die Mühe hat sich gelohnt! Zumindest was die Schauplätze anbelangt. Das wurde – zwischen öder Autobahn-Lärmschutzwand und bombastischem Sternenhimmel - so schön gelöst, dass es mich in allen 10 Fingern juckt, das begeistert zu beschreiben. Wenn da plötzlich von oben … Aber nein!!! Der Überraschungseffekt ist doch so herrlich, das sollten Sie sich wirklich selber ansehen!

 

Allein die selbstreferentielle Ironie beim Türöffnen und –schließen oder das Talent des Tankwarts zum Espressokochen … wie gesagt: sehen/hören Sie selbst!

 

… eine Unsitte!

 

Die Übertragung der äußeren Bedingungen von der Leinwand auf die Bühne hat man also toll hingekriegt!

 

.... denke ich, als ich aus dem Theater komme. Wie gut, dass ich mir den Film vorher nicht angesehen habe! Wie enttäuscht bin ich im Nachhinein, nachdem ich nur die paar Minuten Trailer gesehen habe, die im Internet kursieren. Die Szene mit dem Gipfelkreuz, zum Beispiel, die offenbar auch die Detmolder Theatermacher so fasziniert hat, dass sie sie auf dem Titel des Programmhefts wiedergegeben haben.

 

Und was für eine blasse Darstellung auf der Bühne!

 

Was mir bei den äußeren Schauplätzen erst beim Ansehen des Trailers so richtig aufgegangen ist, habe ich schon vermutet  bei den inneren Abläufen So hat man als Zuschauer kaum den Eindruck, dass die drei Jugendlichen unter ihren Störungen leiden; auch die aufkeimende Liebe Vincents zu Marie wird eher behauptet als gezeigt; ebenso die Bekehrung des Politikers zum Vater. Da drängt sich dann doch die Vermutung auf, dass es dafür halt doch der filmischen Mittel bedarf, der Nahaufnahme, der Konzentration auf das Innere der Autos …

 

Und das führt zur Frage: Wieso muss man eigentlich ein Drehbuch, das nun mal für den Film geschrieben wurde, unbedingt auf der Bühne inszenieren? Ich pflege geradezu penetrant daran herumzumosern, wenn ein guter Roman fürs Theater verhackstückt wird, für das er nicht gedacht war und für das er in aller Regel überhaupt nicht geeignet ist – das Ergebnis ist meist dementsprechend katastrophal, zumindest gemessen an der Vorlage! Und je mehr Film-Adaptionen ich auf der Bühne sehe, um so überzeugter bin ich, das dafür dasselbe gilt wie für all die unbeholfenen Roman-Dramatiserungsversuche.

 

Ich weiß nicht, wie viele exzellente, wichtige Stücke ich aus dem Stegreif aufzählen könnte, die bewusst für die Bühne geschrieben wurden, aber (soweit ich mich zurückerinnere) noch nie in Detmold zu sehen waren! Selbst wenn man hohe Maßstäbe anlegt, sind es Dutzende. Mindestens.

 

 

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Landestheater Detmold:

 

vincent will meer

 

Schauspiel von Florian David Fitz

 

Inszenierung:           Johannes Wenzel

Ausstattung:             Pia Wessels

Dramaturgie:             Marie Johannsen / Christian Katzshmann

Vincent:                    Robert Oschmann
Robert, V.s Vater:    Jürgen Roth

Dr. Rose:                  Kerstin Klinder

Marie:                       Karoline Stegemann

Alexander:               Hartmut Jonas

Tankwart/ Polizist:   Stephan Clemens

Pfleger/ Imbissverkäufer/ Tankwart:

                                    Joachim Ruczynski

Monika, Roberts "Neue":
                                  Marie Luisa Kerkhoff

 

 

Nächste Vorstellungen:

Mi, 25.11./ Di, 15.12./ Fr, 18.12./ Mi, 30.12.2015/ Sa, 16.1./ Sa, 23.1./ Do, 4.2./ Mi, 2.3./ So, 20.3.2016