In ironischer Distanz zu Goethe

„Durchwachsene“ Faust-Inszenierung am Landestheater Detmold

(alle Fotos: Landestheater Detmold - J. Quast)

… la foule nous entraîne
Écrasés l'un contre l'autre
Nous ne formons qu'un seul corps

Nos deux corps enlacés s'envolent
Et retombent tous deux
Épanouis, enivrés et heureux...

 

la foule vient l'arracher d'entre mes bras

...  Nous éloigne l'un de l'autre
Je lutte et je me débats
Mais le son de sa voix
S'étouffe dans les rires des autres
Et je crie de douleur, de fureur et de rage

… maudissant la foule qui me vole
L'homme qu'elle m'avait donné
Et que je n'ai jamais retrouvé...*Übersetzung*)

 

(Edith Piaf: La Foule)

 

Marlene Mephisto Piaf

g.WaSa     -     Detmold.     -     In Goethes „Faust“ singen die Erzengel zu Beginn ein Preislied auf den Herrn und seine Schöpfung, bevor Mephisto („der Geist, der stets verneint“) auftaucht, um zumindest am irdischen Teil dieser Schöpfung gründlich herumzumäkeln („wie immer herzlich schlecht“).

 

Der Detmolder „Faust“ beginnt mit einer Gestalt, die aussieht wie eine ein bisschen schlampige Marlene Dietrich. Und diese beklagt sich – unter den recht unwirschen Blicken zweier Erzengel und mit Hilfe eines Chansons von Edith Piaf – über eine (Menschen-)„Menge“, die ihr erst einen anderen Menschen zuführt, ihn ihr aber - nachdem sie eine enge Verbindung mit ihm eingegangen ist - wieder entreißt. 

Nachdem die Zuschauer diese Marlene als Mephisto erkannt haben, dürfen sie spekulieren (falls sie den französischen Text verstanden haben), was hier gemeint ist: Die Entfernung des gefallenen Engels vom Herrn? Oder ist es eine Vision seines Verhältnisses zu Faust, der ihm ja im entscheidenden Moment – viel, viel später – von einer Menge Engel weggenommen werden wird?

Terrorist, Gefühlsterroristin und der Nicht-Böse?

M. Hottgenroth (Mephisto), St. Clemens (Faust)

Im Vorfeld der Premiere haben weder Regisseur noch Hauptdarsteller mit Ankündigungen gegeizt, wie denn „der Detmolder Faust“ werden solle.  

 

Nicola Schubert, frisch von der Schauspielschule, will das Gretchen nicht als naiven Spielball der Männer geben, sondern als selbst-bewusste junge Frau (als die sie sich mit ihrem allerersten schnippischen Satz bereits in Goethes Text vorstellt). – Stephan Clemens strebt an, dass man seinem „zutiefst verzweifeltenFaust  „die persönliche Not eines Menschen des 21. Jahrhunderts abnimmt“. -  Und schließlich Markus Hottgenroth (der vor ein paar Jahren noch den (Ur-)Faust gespielt hat): „Mein Mephisto ist nicht der Böse“ – eine bemerkenswerte Aussage, zumal für einen gelernten katholischen Theologen.

 

Regisseur Jasper Brandis schließlich sieht in Faust (und damit wohl in der ganzen Menschheit) in erster Linie „Zerstörer“, was Mephisto beweisen wolle, um die Schuldigen am Ende „Staub fressen“ zu lassen: „Der Teufel hat wahnsinnig oft Recht!“ – Wie wahr!  Als Brandis allerdings ankündigt, nicht nur Faust, sondern auch Gretchen als „Terroristen“ darstellen zu wollen, erntet er doch erschrockene Blicke und beeilt sich, seine Aussage mit dem Wort „Gefühlsterroristen“ etwas abzumildern.

 

Im Pausengespräch während der Premiere war dann die einhellige Frage meiner fünf Gesprächspartner (die vom „Terrorismus“ in der Presseankündigung gelesen hatten): „Wo bleibt der Terrorismus?“. Als ich dann den „Gefühlsterrorismus“ zitierte, machte sich Ratlosigkeit breit: „Was soll das denn sein?“ 

„Gefühl ist alles“?  - Pustekuchen!

J. Roth (Wagner), St. Clemens (Faust), H. Klinder (Bauer)

Und wahrlich – zumindest die erste Hälfte dieser Inszenierung ist alles andere als „terroristisch“ (oder gewaltsam, heftig oder auch nur engagiert ...); sie ist das Gegenteil von „gefühlig“, nichts weniger als  „gefühlsterroristisch“ (was immer das sein mag). „Gefühl ist alles“? – Pustekuchen! Die Darsteller stehen steif auf der Bühne ‘rum und leiern ihre Texte ‘runter, dass es ein Graus ist! Fast gewaltsam muss ich mir in Erinnerung rufen, was für einen herrlichen („gefühligen“) „Zettel“ Stephan Clemens – zum Beispiel – vor nicht allzu langer Zeit gespielt hat!

 

Die Ausnahme ist ausgerechnet der kalte Nihilist Mephisto („mein Pathos brächte dich gewiss zum Lachen“); er darf Gefühle, Emotionen zeigen: Ironie, Überheblichkeit, Verachtung, Langeweile, Ärger ... und zwar von Anfang an, schon im „Prolog“, im Gespräch mit dem Herrn, dessen eintöniges Daher-Deklamieren aus dem Off dadurch um so unangenehmer auffällt. Da helfen dann auch die eingestreuten hübschen ironischen Zwischenbemerkungen nicht mehr viel. 

Religions-Streitgespräch

Nach der Pause dann die Wende: Wenn Clemens / Faust zu „Wald und Höhle“ vor den Vorhang tritt, ist er nicht mehr der seelenlose Automat, ab hier ist er plötzlich zum fühlenden Menschen geworden. Überzeugend! Ebenso Gretchen im anschließenden „Meine Ruh ist hin“. Beim Religionsgespräch überlegt man dann, ob Brandis hier zeigen will, was er unter Gefühlsterrorismus versteht: zunächst rennt Gretchen ein paarmal unmotiviert aber energisch rund um die Bühne, dann kuschelt sie sich schön gemütlich in Fausts Schoß: eine überzeugende Pose! – Aber jetzt gehts los! Dieses Gretchen ist nicht die „treue liebe Seele“, die sich um des Liebsten Seelenheil „heilig quält“. Die „Gretchenfrage“ klingt hier aufmüpfig-forsch, die Folgeargumente herausfordernd, geradezu aggressiv – im Tonfall eher eines Eifersuchtsstreites. Und Faust? Seine Anrede „liebes Kind“ wirkt überheblich-belehrend, was durchaus noch der herkömmlichen Rolle entspricht; aber dann steigert er sich immer mehr in ein besserwisserisch-zorniges Gebrüll hinein („Misshör mich nicht!“), das auch nicht überzeugender wird, wenn er es drei, viermal wiederholt. So eine Art Lehrer der ganz alten Schule, der mit einem besonders impertinenten Schüler die Geduld verliert.

Die Nebendarsteller: 

N. Mamier (Marthe), N. Schubert (Gretchen)

Henry Klinder bringt seine wenigen kurzen Auftritte in gewohnter Professionalität hinter sich: als Bauer ist er nüchtern-ernst; als Hexe macht er bella figura; und das  Lieschen hat man ihm auch noch aufgedrückt.

 

Jürgen Roth überzeugt als manisch-bigotter Valentin; in der ersten Hälfte macht er seinen Wagner durch maßlos übertriebene gemessen-abgezirkelte Bewegungen zum Marionetten-Charakter unter den seelenlosen Gestalten.

 

Natascha Mamier – neu in Detmold – belebt den Osterspaziergang mit einer verkniffenen Bäuerin. Als Erz-Schlampe Marthe ist sie eine Wucht!

Die Inszenierung: Distanz von Goethe?

Der immense Text ist auf knapp drei Stunden zusammengekürzt. Schülerszene und Auerbachs Keller fallen ganz weg. Das ist für Zitatefans („Es erben sich Gesetz und Rechte ...“; „Uns ist so kannibalisch wohl ...“) eine Tragödie – lässt sich aber inhaltlich vertreten: Goethes Satire auf die akademische Welt seiner Zeit ist womöglich wirklich das, was uns Heutigen vom ganzen „Faust“ am fernsten liegt. Auch sonst ist viel gestrichen, geht also viel an Inhalt verloren. Immer schade! Aber unvermeidbar. Die „kleine Welt“, durch die Mephisto Faust im Ersten Teil führen will, wird noch einmal gründlich reduziert: Kein Bürgermeister-Bashing, kein Volksgetümmel beim Osterspaziergang (dabei wäre doch die Spießbürgerzufriedenheit angesichts ferner Weltläufte hochaktuell – „wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker auf einander schlagen ... Mag alles durcheinander gehn; doch nur zu Hause bleib’s beim alten“), keine Nachbarin mit Fläschchen im Dom ... Und natürlich verläuft auch die Walpurgisnacht so steril wie in den meisten Faust-Inszenierungen: Faust und Mephisto müssen sie ohne jegliche lüstern-vergnügte Gesellschaft hinter sich bringen; Tanz und Kopulation der Hexen und Teufel bleibt allein diesen beiden überlassen. 

 

N. Schubert (Gretchen), N. Mamier (Marthe), M. Hottgenroth (Mephisto)

Man kann den Eindruck haben, das Regieteam wolle sich von dem saft- und kraftvollen Stück Goethes distanzieren. Schon rein äußerlich, durch’s Bühnenbild: Mitten auf die Landestheater-Bühne haben sie einen Guckkasten gestellt, zwischen ein bisschen technisches Equipement (Scheinwerfer, Mikrofone). Und hier, innerhalb dieses isolierten Guckkastens spielt sich ein Großteil der Handlung ab – eine ansprechende, überzeugende Lösung! Verständlich auch, wenn man es bei der völlig leeren Bühne belässt: keine gemalten Scheiben, kein angeraucht Papier, kein Spinnrad, keine Mater dolorosa ... nichts, das von der Essenz des Stückes ablenken könnte.

 

Und auch die – unterstellte – Absicht, dieser alten Schullektüre ihren Rauch und Moder, den Urväter Hausrat mit einer ordentlichen Portion ironischer Distanz auszutreiben, weckt zunächst einmal begeisterte Zustimmung! – ABER ...

N. Schubert (Gretchen), H. Klinder (Lieschen)

Gut, wenn der Erdgeist von Faust gleich mitgespielt wird. Sehr gut sogar, wenn das nicht nur eine Personalsparmaßnahme ist, sondern inhaltliche Interpretation. Aber warum muss man dann den Erdgeist zum Epileptiker machen? Klar – kein österlich-erhabenes Glockengeläute, kein fromm-getragener Chorgesang könnte einen Faust-2015 vom einmal beschlossenen ultimativen Weg abhalten – aber das uns stattdessen angebotene Gezischel-Geschnalze kann das sicherlich auch nicht (und irritiert allenfalls den Zuschauer). - Okay – soll doch Henry Klinder das Lieschen mitspielen. Aber wie peinlich, ja fast schon obszön wirkt es denn, wenn dieser Darsteller (kurz vor dem Rentenalter) in ein luftig-flatterndes Klein-Mädchen-Kleidchen gesteckt wird? – Wie magst du, Regisseur, nur gleich so hitzig übertreiben? („Der Teufel hat wahnsinnig oft Recht!“) 

Der (Nicht-)Böse?

Schließlich und endlich: Hottgenroths Behauptung, sein Teufel sei nicht der Böse, kann ich einfach nicht unkommentiert stehen lassen. Man möchte mit einer ganzen Phalanx von Zitaten dagegen anrücken. Eines soll genügen:

 

Wenn er gegen Ende Gretchens Schicksal mit seinem lapidaren „Sie ist die erste nicht“ abtut, so geschieht dies mit dieser cool-aasigen Fiesigkeit, dieser menschenverachtenden Überheblichkeit, für die wir ... Entschuldigung: für deren perfekte Darstellung wir diesen Schauspieler so oft schon bewundert haben. Aber: Wenn das nicht böse ist ....!  (Dass, selbst wenn wir „den Bösen“ los wären, „die Bösen geblieben“ sind – das steht allerdings außer Frage!) 

 

Fazit

Die Konzeption: spannend und überzeugend! Das Steife in der ersten Hälfte hat mich enorm gestört. An den Schauspielern kann’s nicht gelegen haben – die können’s besser, was sie nach der Pause und (soweit „alte Detmolder“) schon oft bewiesen haben. Also muss es Absicht gewesen sein. Aber welche Absicht?

 

Die Distanz zu Goethe hat mir gut gefallen. Wenn mir der eine oder andere Regie-Einfall zu weit ging – Geschmacksache. Das Premierenpublikum hat jedenfalls begeistert applaudiert. 

PS:

Ganz zum Schluss, als Gretchen gerettet und Mephisto mit Faust eigentlich (= laut Goethe) schon verschwunden ist – da treffen sich diese beiden noch einmal vor dem bereits geschlossenen Vorhang. Aha! Die Geschichte geht weiter ...

 

Wann folgt also „Faust II“ ?

 

PPS:

Kompliment für’s Programmheft! Die abgedruckten Texte helfen, den „Faust“ aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts zu sehen!

 

 

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Landestheater Detmold: 

 

 

Faust - der Tragödie Erster Teil

von Johann Wolfgang von Goethe
 


Inszenierung:                        Jasper Brandis 
Ausstattung:                        Andreas Freichels 

Musik:                                   Frank Niebuhr

Dramaturgie:                        Christian Katzschmann


Faust:                                      Stephan Clemens
Mephisto:                                Markus Hottgenroth
Gretchen:                                Nicola Schubert
Marthe Schwerdtlein:            Natascha Mamier

Wagner/Valentin:                   Jürgen Roth

Hexe/Lieschen:                      Henry Klinder

 

 

Nächste Vorstellungen: 

Mi, 14.10./ Fr, 23.10./ Sa, 24.10./ Mi, 28.10./ Sa, 31.10./ Sa, 7.11./ So, 22.11./ Do, 26.11./ Do, 3.12.2015