Eine wichtige Inszenierung. Eine hervorragende Inszenierung
Landestheater Detmold holt Frischs „Andorra“ ins Jahr 2019
Das Stück
(g. wasa - Detmold.) Max Frisch schildert in seinem 1961 uraufgeführten Stück die Gesellschaft des Kleinstaates Andorra. Dessen Bewohner gerieren sich als die „Weißen“ (= die Guten), wogegen im übermächtigen Nachbarstaat die „Schwarzen“ eine vermutlich faschistische, jedenfalls aber eine radikal judenfeindliche Herrschaft ausüben. – Lehrer Can aus Andorra hat mit einer „schwarzen“ Frau ein uneheliches Kind, das er – als (verheiratetes) Mitglied der guten andorranischen Gesellschaft – nicht anerkennen kann; deshalb gibt er den Jungen, Andri, als Judenkind aus, das er vor den „Schwarzen“ gerettet habe; er zieht ihn als „Pflegesohn“ auf und gilt in Andorra dafür als Held („Es war rühmlich. Im Anfang haben sie dich gestreichelt, denn es schmeichelte ihnen, daß sie nicht sind wie die da drüben“).
Doch je älter der Junge wird, desto mehr erkennen die (mehr als latent antisemitischen) Andorraner in ihm „das andere Blut“, „den Jud“. Es ist die große Kunst Frischs zu zeigen, wie – im Sinne Marx‘ – „das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt“ (= da Andri von der Gesellschaft als „Jud“ behandelt wird, empfindet er sich als solchen); und wie dann sozusagen der Marxsche Kopf wieder auf die Hegelschen Füße gestellt wird: Da alle ihn für einen Juden halten und er sich selbst als solcher fühlt, erkennt man ihn als das, was ein Andorraner gemeinhin unter einem „typischen Juden“ versteht: „dass sein Benehmen mehr und mehr (sagen wir es offen) etwas Jüdisches hatte, obschon er, mag sein, ein Andorraner war wie unsereiner“.
Zur Katastrophe kommt es, als Andris Mutter in Andorra erscheint und (ziemlich unmotiviert – eine Schwäche des Stücks) ermordet wird. Natürlich wird der (nachweislich unschuldige) „Jud“ dafür verantwortlich gemacht. Und als die „Schwarzen“ den Tod ihrer Bürgerin als willkommenen Anlass nehmen, Andorra zu besetzen, ist es für das späte Bekenntnis des Lehrers zu seinem Sohn zu spät. Kaum jemand glaubt ihm, am wenigsten Andri selbst. In einer „Judenschau“ ermitteln die Besatzer den Juden. Der Versuch von Andris Schwester, ihre Mitbürger zum (und sei es nur: passiven) Widerstand dagegen aufzustacheln bleibt erfolglos: lieber bewundern die braven Bürger die Effizienz und Unfehlbarkeit der Besatzer und den ordentlichen Ablauf der Selektion („Der Judenschauer mustert lang und beamtenhaft – unbeteiligt – gewissenhaft“).
Ein „Jemand“ und der Wirt ziehen eine Art Fazit: „Der arme Jud … - Was können wir dafür.“ Andris Halbschwester Barblin versucht manisch, Andorra wieder weiß zu malen. Am Schluss fragt Barblin den Pfarrer: „Wo bist du gewesen, als sie unsern Bruder geholt haben wie Schlachtvieh?“ – Die Antwort: Schweigen.
Das geographisch-historische Umfeld
In einem Vorspann stellt Frisch klar: „Das Andorra dieses Stücks hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kleinstaat dieses Namens … Andorra ist der Name für ein Modell“. Zwar betont er gleichzeitig: „gemeint ist auch nicht ein andrer wirklicher Kleinstaat“; der Schweizer Autor konnte aber den Verdacht nie ausräumen, er habe wohl doch an sein Heimatland gedacht und an die nicht immer rühmliche Rolle, welche die Schweiz während des „Dritten Reichs“ gespielt hatte - dazu mag ein Wikipedia-Zitat genügen, das den Bericht der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ so zusammenfasst: „dass die damalige schweizerische Flüchtlingspolitik mit den «Prinzipien» eines Rechtsstaates nicht vereinbar gewesen sei“.
Frisch selbst sagte gut 20 Jahre später: „Andorra hat das schweizerische Publikum getroffen – und dies nicht unbeabsichtigt; eine Attacke gegen das pharisäerhafte Verhalten gegenüber der deutschen Schuld: der tendenzielle Antisemitismus in der Schweiz“ 1)
Kein Wunder, dass das Stück (wie auch der zitierte Bericht) in der Schweiz umstritten war und ist. Die Uraufführung im November 1961 am Schauspielhaus Zürich wurde allerdings zum Riesen-Erfolg. Und zum Erfolg wurde „Andorra“ auch in Deutschland. Wurde nach dem Krieg Lessings „Nathan“ – sozusagen zur „Sühne“ – zu einem der meistgespielten Stücke auf Deutschlands Bühnen, so wurde dies in den 60er Jahren „Andorra“. Knapp drei Monate nach der Uraufführung folgten zeitgleich deutsche Erstaufführungen in München, Düsseldorf und Frankfurt; in der Spielzeit 1962/63 wurde „Andorra“ mit 963 Aufführungen das zweit-erfolgreichste Stück auf deutschsprachigen Bühnen (nach Dürrenmatts „Physikern“).
„Andorra“ in Deutschland – Exkulpation durch Theater?
Mit Recht wurde die Fülle von „Andorra“-Inszenierungen in Deutschland auch kritisch gesehen. Viel diskutiert wird bis heute die Frage, ob die Judenverfolgung im Stück nicht als „lediglich tragischer Irrtum“ verharmlost wird, da der Verfolgte ja gar kein echter Jude war.
Gravierender erscheint der Vorwurf, die drastische Darstellung eines allgemeinen Judenhasses in der „anständigen“ Schweiz relativiere den deutschen Antisemitismus: Der Theaterbesucher könne mit einem beruhigenden „Nicht nur wir …“-Gefühl nach Hause gehen.
Und heute? 2019?
Wieder auflebender Antisemitismus, Islam- und überhaupt Fremdenfeindlichkeit, Fakenews, Shitstorms, Populismus … - Pünktlich zur Detmolder „Andorra“-Premiere bringt der SPIEGEL eine Titelgeschichte über ausrastende Wutbürger. Eine Erinnerungskultur, die gerade in dieser Situation so wichtig wäre, wird als „Schande“ abqualifiziert.
Detmolder Inszenierung: „Diese Geschichte 2019 erzählen“
Das Detmolder Regieteam hat sich gründlich Gedanken darüber gemacht, wie dieses historische Stück in die aktuelle Situation einzubetten sei. Das beweisen die lesenswerten Beiträge von Dramaturg Arne Bloch im Programmheft. Regisseur Alexander Schilling will „Diese Geschichte 2019 erzählen“. – Und das ist gelungen. Hervorragend gelungen!
Beim Betreten des Saals sieht man eine offene, in leichtem Nebel liegende Bühne, die nach hinten abgeschottet ist durch gestaffelte Reihen personengroßer massiver Quader – Absperrung eines Weihnachtsmarktes gegen Terrorangriffe? Dazwischen ein großer Kleiderhaufen.
Dass aus dem Off die allgegenwärtige Begleitmusik dudelt, fällt erst auf, als sich immer mehr Misstöne einschleichen und schließlich nur noch Störgeräusche zu hören sind. Währenddessen kommt, heraus aus der Phalanx der Quader, eine Prozession alter Männer. Uralter Männer; man denkt an die Fotos ehemaliger SS-Männer, die heute, inzwischen uralt, gelegentlich noch vor einem Gericht stehen.
Es sind die Protagonisten, die guten Bürger von Andorra, die auch Frisch auftreten lässt, als Zeugen?, als Beschuldigte? in einem Tribunal, irgendwann später, lange nach den Ereignissen. Jeder beginnt scheinbar einsichtig: „Ich geb zu, dass ….“ – Aber dann folgen all die wohlbekannten übl(ich)en Rechtfertigungen:
“Ich habe ja nichts gewusst.“
„Ich habe nur meinen Dienst getan. Befehl ist Befehl.“
„Einmal muss man auch vergessen können“
So dass alle das Fazit ziehen können: „Ich bin nicht schuld ….“
Diese Nicht-Geständnisse der Alten aus der Vergangenheit sind im Original verteilt auf die 12 Bilder des Stücks. Hier, in Detmold, stehen sie konzentriert am Anfang. Währenddessen sortiert die junge Generation den Kleiderhaufen in Säcke – Spenden für Flüchtlinge? Damit „starten wir im Jahr 2019 in die eigentliche Geschichte“ (Schilling), damit sind wir in der Gegenwart (obwohl die Andorraner bei Frisch auch schon irgendwann in ferner Vergangenheit Kleider für Flüchtlinge gesammelt hatten): Die Alten verschwinden, die Jungen – Andri, Barblin, der Soldat … - können mit ihrer Darstellung beginnen: der Darstellung der alltäglichen Vorurteile, der üblichen Vorbehalte gegen das Andere, der regelmäßigen Diskriminierung, der sich aus sich selbst heraus entwickelnden Fremden-(Juden-, Islam-, …-)Feindlichkeit.
Am Ende, in den drei letzten Bildern, sind wir dann in der Zukunft: Die Faschisten sind einmarschiert. Der Jud wird ausgemerzt. Eine Dystopie nennt das der Regisseur, also eine negative Utopie, eine eher literarische Form der Zukunftsbeschreibung. Literarisch? - Der Regisseur warnt: Wenn wir uns den ersten Teil „durchaus als gegenwärtige Realität vorstellen können, wenn wir dem nichts entgegensetzen, wenn wir da nicht sagen ‚Stopp‘, dann können wir ganz schnell bei dem zwölften Bild landen, bei der ‚Judenschau‘“, der Selektion des Anderen.
Wenn wir diese Warnung als Grundidee der Inszenierung betrachten, dann können wir getrost darauf verzichten, auf Einzelheiten der Inszenierung weiter einzugehen. Allenfalls mag man finden, dass die „Weißmalerei“ der Andorraner etwas zu kurz kommt, und vor allem – angesichts der sich z. Zt. wieder häufenden Vorwürfe an die Kirche („seine Kirche ist nicht so weiß, wie sie tut“, heißt es bei Frisch) – bedauern, dass ausgerechnet die Figur des Pfarrers gestrichen, sein Text auf andere verteilt wurde.
Das Bühnenbild – ein Geniestreich
Die Quader, die wir zunächst für eine Barriere gegen den Terror gehalten haben, erweisen sich als Holzkisten, die als vielfältige Requisiten dienen: Stuhl, Tisch, Rückzugsort etc. Nach der Pause sind sie neu angeordnet, und spätestens jetzt erkennen wir das Berliner „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Ein Geniestreich (Stephan Mannteuffel)! –
Ein schmerzender Geniestreich, erst recht, als Andri die Quader umlegt und damit eine öde, bedrückende Landschaft erschafft, in der es – zu den sich steigernden Klängen des „Bolero“ – zur Endlösung kommt: Zunächst die Vorbereitung der Selektion, wozu (Abu Ghuraib lässt grüßen) die Andorraner mit schwarzen Tüchern verhüllt werden, dann die Selektion, schließlich Folter („Das mit dem Finger ging zu weit“) und Mord.
Die Darsteller
Eine gute Inszenierung hat gute Darsteller verdient – und hat sie in diesem Fall bekommen! Herausragend die Hauptperson: Emanuel Weber als (Nicht-)Jude Andri. Beeindruckend, wie er sich verzweifelt gegen seine ungerechte Benachteiligung wehrt und wie er sich doch von dem äußeren Druck Stückchen für Stückchen zum „Juden“ machen lässt. Fast möchte man Faust angesichts des eingekerkerten Gretchens zitieren: „Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an“, wenn Andri am Ende auf seinem Podest steht: unschuldig und schuldig gesprochen, nackt und verletzlich, voll Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit, aber verzweifelt und doch noch mit einer leisen Hoffnung auf Barblins Liebe. Letztlich aber chancenlos.
Und die anderen? Ohne jemanden herauszugreifen: Alle vermitteln den Eindruck, an diesem Abend alles gegeben, mit Herzblut gespielt zu haben.
Wenn am Ende ein hellauf begeistertes Publikum sich zu langen stehenden Ovationen erhebt, dann ist dies sicherlich nicht zuletzt diesen tollen Schauspielern geschuldet.
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1) in: SCHMITZ, Walter, WENDT, Ernst (Hrsg.): Frischs Andorra. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984 (zit. n. Wikipedia )
Landestheater Detmold:
Andorra
Schauspiel von Max Frisch
Inszenierung Alexander Schilling
Ausstattung Stephan Mannteuffel
Dramaturgie Arne Bloch
Andri Emanuel Weber
Barblin Ewa Noack
Der Lehrer Patrick Hellenbrand
Die Mutter / Die Senora Natascha Mamier
Der Soldat André Lassen
Der Wirt Heiner Junghans
Der Tischler Henning Bormann
Der Doktor Jürgen Roth
Der Geselle Adrian Thomser