Woyzeck: Hippe Kostüme - ideenlose Inszenierung
Büchners Sozial-Tragödie im Detmolder Grabbehaus
WaSa Detmold. - Auf der kleinen Grabbebühne des Landestheaters Detmold hatte jetzt Büchners Woyzeck Premiere – rätselhafterweise unter dem Titel „Woyzeck
reloaded“.
Woyzeck – ein Sozialporträt aus dem 19. Jahrhundert:
„Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Die Menschen schwitzen, stöhnen und hungern; sie werden zu Ackergäulen und Pflugstieren
gemacht. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden ...“ (Büchner: Der hessische Landbote).
Wortmächtig und radikal prangert der 21jährige Medizin- und Philosophiestudent Georg Büchner im Jahr 1834 die unsozialen Verhältnisse im Großherzogtum Hessen an und ruft die geschundene Bevölkerung
unter der sprichwörtlich gewordenen Parole „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ zum Widerstand auf. Viel erreicht hat er damit nicht; ebensowenig wie mit der Gründung einer revolutionären
„Gesellschaft für Menschenrechte“; vielmehr musste er fliehen, zunächst nach Straßburg, dann nach Zürich, wo er schon 1937 im Alter von 24 Jahren starb.
Hinterlassen hat Büchner – neben zwei fertigen Stücken – das Fragment eines Dramas. Was er in seiner politischen Flugschrift allgemein und anhand von Statistiken angeprangert hatte, dem verleiht er
hier individuelles Leben. Seitdem Lessing und der „Sturm & Drang“ auch die Bürgerlichen tragödienwürdig gemacht haben, hat das deutsche Drama zahlreiche vom Schicksal – oder besser,
realistischer: - von ihrer Mitwelt - gepeinigte Kreaturen porträtiert: Schillers Luise Millerin, Hauptmanns Hannele und Rose, Horváths Elisabeth und Marianne oder Kroetz‘ Beppi: fast immer sind es
Frauen (die ja nicht nur an der sozialen, sondern auch an der Geschlechterdiskriminierung leiden). Auch Woyzecks Marie (stellenweise eine Wiedergängerin Gretchens: „Ach, wir Armen“) passt in diese
Reihe. Doch ins Zentrum seines Stücks stellt Büchner einen Mann: „Franz Woyzeck, Wehrmann, Füsilier im 2. Regiment, alt 30 Jahr, 7 Monat und 12 Tage“. Dieser kleine Soldat wird von allen
Seiten nur getreten, gedemütigt, unterdrückt. Alles was er hat, ist die schöne Marie und das gemeinsame uneheliche Kind. Um die beiden mit ein paar zusätzlichen Groschen zu unterstützen, verdingt
sich Woyzeck nicht nur als menschliches Versuchskaninchen an einen sadistischen Arzt, er macht auch den Laufburschen für den Hauptmann, der seine Machtposition weidlich ausnutzt, um den Untergebenen
zu triezen. Dieser Hauptmann ist moralisch, weil ihm unmoralisch sein zu stressig wäre; aber er plagt Woyzeck wegen dessen „wilder Ehe“ mit dem Vorwurf der Unmoral. Was nützt diesem seine Erkenntnis,
im Wohlstand lebe es sich leicht tugendhaft? Er muss sich damit abfinden: „Unsereins ist doch einmal unselig in der und in der andern Welt. Wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern
helfen.“
Auch das würde Woyzeck wohl klaglos tun. Womit er sich jedoch nicht abfinden kann, ist, dass er Marie nicht zu halten vermag. Gegen den schmucken, kräftigen Tambourmajor hat der ausgezehrte gemeine
Soldat Woyzeck keine Chance. All das Elend treibt ihn schließlich in den Wahnsinn, und er bringt Marie um.
Woyzeck – medizinische Causa oder Opfer der Gesellschaft?
Für diesen Eifersuchsmord gab es ein reales Vorbild: einen Johann Woyzeck, der 1824 für seine Tat hingerichtet worden war, und um dessen Zurechnungs- und Schuldfähigkeit heftig gestritten wurde. Auch
(der Mediziner) Büchner hat sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt. In der Folge haben Woyzeck-Interpreten deshalb vielleicht allzu sehr das Augenmerk auf psychiatrisch-forensische Aspekte
der Dramenfigur gerichtet und darüber die Frage nach der sozialen Ungerechtigkeit als eigentlicher Quelle des Übels in den Hintergrund rücken lassen. So betont Christian Katzschmann im Programmheft
zur Detmolder Woyzeck-Inszenierung zwar ganz richtig, dass die psychische Schuldfähigkeit für Büchner von Bedeutung war, „wesentlicher aber die Frage, wie eine soziale Ordnung beschaffen ist, die
eines ihrer Mitglieder in derartige Verelendung abgleiten lässt ...“ – leider war’s das dann schon mit der Sozialkritik. Der umfangreiche Rest des Programmhefts besteht aus einem Interview mit
einer forensischen Psychiaterin.
Woyzeck – lange unbeachtet, heute ein „Renner“
Nicht zuletzt wegen des fragmentarischen Charakters von Büchners Text (ausführlich bei Wikipedia) blieb der Woyzeck lange
unbeachtet. Erst 1913 wurde er in München erstmals aufgeführt; in der Weimarer Republik wurde er dann landauf-landab gespielt, ebenso in der Bundesrepublik bis heute. Nach Wikipedia sind bis
1999/2000 420 Inszenierungen nachweisbar. Und Google listet auf den ersten beiden „Woyzeck“-Seiten sieben aktuelle Inszenierungen auf (und da ist die Bielefelder von 2011 nicht mehr und die Detmolder
noch nicht dabei - s. Liste unten).
Der Detmolder Woyzeck - Was ist hier reloaded?
Angesichts solcher Zahlen muss man sich als Woyzeck-Regisseurin schon anstrengen, um sich von den anderen zu unterscheiden, womöglich gar aus der Masse der Woyzeck-Inszenierungen herauszuragen. Offenbar war man in Detmold fest entschlossen, etwas „Neues“ zu bieten. Und so hat man nicht einfach „Woyzeck. Von Büchner“ angekündigt, sondern weckt gespannte Erwartungen mit „Woyzeck reloaded – nach Georg Büchner“. Um es vorwegzunehmen: die Erwartungen werden enttäuscht. Da gibt es nichts Neues. Der Text hält sich recht eng an das Büchnersche Original (was ja schon mal ganz gut ist!); die Szenenfolge folgt den gängigen Schemata (wobei die einzelnen überlieferten Fragment-Teile ohnehin keinen eindeutigen Ablauf vorgeben).
Was also ist hier reloaded? Man hat sogar den Eindruck, die Regisseurin habe überhaupt keinen rechten Zugang zu dem Text gefunden. Jedenfalls ist ein schlüssiges Inszenierungskonzept nicht zu
erkennen. Die paar auffälligen Regie-Einfälle sind nur selten beeindruckend: so vor allem das demonstrative in Position-bringen des Messers und die im Gegensatz dazu (und im Gegensatz zu Büchners
Text) geradezu sanfte Mordtat. In de Regel bleiben die Ideen konventionell (die Geräusch-Kulisse), banal (anstelle eines Paars Ohrringe schenkt der Tambourmajor Marie einen ganzen Berg Pakete) oder
rätselhaft: aus dem Kinderwagen, der anstelle des Kindes auf der Bühne steht, wird gegen Ende des Stückes eine große Schaumstoffwolke geblasen. Was soll das bedeuten? Soll es darauf aufmerksam
machen, dass am Ende der Tragödie ein Kind elternlos zurückbleibt? Aber dessen Schicksal kommt viel eindringlicher in dem abgrund-traurigen Anti-Märchen der Großmutter zum Ausdruck (hier
beeindruckend-anrührend dargeboten von Marie Anna Suttner; der Wortlaut wird am Ende dieses Textes wiedergegeben).
Eine Bekannte (immerhin so theaterbegeistert, dass sie seit Jahren ein Grabbehaus-(Premieren-)Abo hat, aber nicht so interessiert, dass sie die Stücke vorher lesen würde) hat ihren Eindruck auf den
Punkt gebracht: „Den Inhalt habe ich nicht verstanden. Aber die Kostüme waren interessant und beeindruckend.“
Beeindruckend: die Ausstattung
In der Tat! Wenn etwas an dieser Inszenierung – über Büchners Text hinaus - bemerkenswert ist, dann sind es die Kostüme. Und ein bisschen auch das Bühnenbild (Bühne und Kostüme
entstanden in Kooperation mit dem Studiengang Innenarchitektur der Fachhochschule Wiesbaden, unter Leitung von Professor Reiner Wiesemes).
Der erste Blick auf die Bühne vermittelt den Eindruck, vor einer großen weißen Regalwand zu sitzen. Schnell erkennt man aber, dass der begrenzte Raum im Grabbehaus für ein kompaktes
Bühnenbild genutzt wird: Die einzelnen Schauplätze werden vertikal neben- und übereinander gestapelt. Die unterschiedlich großen Regalfächer erinnern an Zellen – wie im Kloster. Oder wie im
Gefängnis. Zwar gibt es Durchgänge zwischen den einzelnen Zellen, die von den Akteuren dann auch rege genutzt werden. Doch insgesamt bleibt der Spielraum äußerst beschränkt. (Und das muss man nicht
nur im Wortsinne verstehen.)
Und endlich die Kostüme: im Grunde heutig; dass wir uns im militärischen Milieu bewegen, wird durch Accessoirs wie Schulterstücke deutlich gemacht. Aber es handelt sich nicht um
Uniformen – im Gegenteil: die Kostüme betonen die Individualität der einzelnen Figuren, was besonders dort beeindruckt, wo ein Darsteller mehrere Charaktere spielt. Die Rollen von Hauptmann und
Tambourmajor werden häufig zusammengelegt, was selten überzeugt. Bei dieser Detmolder Inszenierung merkt man kaum, dass nur ein Schauspieler beide darstellt – was der Schauspielkunst und
Wandlungsfähigkeit Markus Hottgenroths zu verdanken ist, die aber durch die Kostüme unterstützt werden: der Hauptmann steckt in einem geradezu peinlich-geschmacklosen Sado-Maso-Domina-Outfit, dem
Tambourmajor verleihen Micky-Maus-Ohren in Verbindung mit der reifen Mimik des Schauspielers fast die Aura eines weise-abgeklärten Clowns (wie beides zu den Rollenbildern passt, sei hier lieber nicht
erörtert ...). Marie mit ihrem Kuscheltier-Pulli passt herrlich ins Klischee der primitiv-konsumfreudigen Unterschichten-Fernsehkonsumentin (Anna Katharina Schwabroh); die übrigen Frauenrollen sind
auf zwei Figuren reduziert, die beide von Marie Anna Suttner gespielt und ebenfalls durch die Kostüme differenziert werden: einmal als Gehbehinderte im Arme-Leute-Kleidchen, zum andern als erotischen
Männertraum: die Playboy-Bunny-Ohren weisen sie als Luxusgeschöpf aus - das sich allerdings in eine Lidl-Tüte gewickelt hat (und darin vermutet man ja eher Billiges).
Auch Christoph Gummert verfügt über das handwerkliche Geschick, seine Rollen beeindruckend zu differenzieren; auch ihm helfen dabei die unterschiedlichen Kostüme: der weiße Kittel für den
sadistischen Arzt, ein neonfarbener Trainingsanzug für den einfachen Soldaten Andres, eine schrille Zirkus-Uniform für den Marktschreier ... Am unauffälligsten-normalsten ist Woyzecks Outfit. Und das
ist auch gut so. Denn so kann Stephan Clemens allein durch seine Schauspielkunst das Elend dieser armen Kreatur angemessen und mitreißend zum Ausdruck bringen. Bravo!
Landestheater Detmold, Bühne im Grabbehaus:
Woyzeck reloaded
nach Georg Büchner
Regie: Swentja Krumscheidt
Bühne: Daniela Maute
Kostüme: Andrea Müller / Reiner Wiesemes
Dramaturgie: Christian Katzschmann
Woyzeck: Stephan Clemens
Marie: Anna Katharina Schwabroh
Tambourmajor, Hauptmann: Markus Hottgenroth
Ausrufer, Arzt, Andrés: Christoph Gummert
Nachbarin, Margret: Marie Suttner
weitere Vorstellungen:
Do 29.11. / Fr 30.11. / Mi 12.12. / Do 13.12. / Fr 14.12.2012 / Fr11.01. / Sa 12.01. / So 13.01. / Fr 18.01. / Mi 23.01. / Do 21.02. / Sa 09.03. / So 10.03. / Fr
19.04.2013
Das Märchen der Großmutter
Es war einmal ein arm Kind und hatt' kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der
Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn
kam, war's ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie's wieder auf die Erde
wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.
(übernommen von: Projekt Gutenberg): )
Weitere Woyzeck-Inszenierungen an deutschen Bühnen
(Spielzeiten 2011/12 und 2012/13 – unvollständige Auswahl):
Münchner Kammerspiele
Deutsches Theater Berlin
Staatstheater Darmstadt
Thalia Hamburg
Staatstheater Nürnberg
Dresden
Kassel
(weitere Treffer liefert die Suche nach Alben Bergs (auf Büchner beruhender) Oper "Wozzeck")