Religiöses Spiel von letzten Dingen

Oder: Finanzkapitalismus-Satire

Faszinierende "Jedermann"-Inszenierung in der Kirche

(Fotos: Landestheater Detmold)

WaSa – Detmold.    Alle Jahre wieder, wenn im Juli spätnachmittags die schaurigen „Jeeederrrmaaannn“- Rufe über den Domplatz und durch die ganze Altstadt dröhnen, wissen Touristen und einheimische Salzburger: „S’ist wieder amol Festspielzeit“. Und Hofmannsthals „Jedermann“ wird mal wieder – manchmal – zum theatralischen Erlebnis, immer aber zum gesellschaftlichen Bussi-Bussi-Ereignis. Nur eines wird in Salzburg noch leidenschaftlicher diskutiert  (außer natürlich der Garderobe der Festspielpräsidentin, dem Festspielmenue im Goldenen Hirschen, und wer dort logiert und wer bloß in der Blauen Gans), als die heurige Besetzung des Jedermann, nämlich die Frage: Wer spielt die Buhlschaft? (Dieses Jahr sind’s übrigens der Hörbiger-Wessely-Enkel Cornelius Obony und der Star der Münchner Kammerspiele Brigitte Hobmeier. Und – ja, was dachten Sie denn?! - alle diesjährigen Vorstellungen sind seit langem ausverkauft).

Lange schien Salzburg das letzte Biotop, in dem dieses Produkt einer „schöpferischen Restauration“ überleben konnte: dieses stockkatholische Memento Mori,  dieser G’wissenswurm aus der Feder des österreichischen Fin-de-Siècle-Schöngeistes und Mitbegründers der Salzburger Festspiele, diese moralinbittere Predigt in Gestalt eines  spätmittelalterlichen Mysterienspiels, und das in einer Sprache, die sich den dichtenden Schuhmacher Hans Sachs zum Vorbild genommen hat und in geradezu grauenhaften Knittelversen einherrumpelt (und das von dem Sprachkünstler Hofmannsthal, der schon als Jugendlicher mit seinen geradezu ziselierten Texten Aufsehen in Literatenkreisen erregte und von Schnitzler mit Goethe verglichen wurde).

Doch schon vor geraumer Zeit ist der Jedermann ausgebrochen aus den Ghettos der Salzburger und einiger ländlich-provinzieller Festspiele (ja, auch in Berlin) und taucht jetzt immer wieder auf den „ganz normalen“ Theaterspielplänen auf.


Metzger vor der Jedermann-Bühne in der Luther-Kirche (Foto: WaSa)

Und nun also auch in Detmold, wo sich der Intendant und Regisseur Kay Metzger vehement und verständlicherweise von einem „Jedermann“ distanziert, der „vor einem Salzburger Schicki-Micki-Publikum“  zum „anachronistischen“  Event werden muss. Metzger – der einst erwogen hatte, ins Kloster zu gehen – sieht den  „Jedermann“  dagegen sehr wohl als religiöses Stück und wählt als Hauptdarsteller bewusst Markus Hottgenroth, der vor seiner Schauspielerkarriere tatsächlich vier Semester Theologie absolviert hat. Metzger bescheinigt sich selbst „eine Affinität zu sakralen Räumen“ und will (auch) deshalb immer wieder „heraus aus den heiligen Hallen des Landestheaters“ und inszeniert den „Jedermann“ folgerichtig in einer Kirche.

„Ohne religiösen Zugang ist der ‚Jedermann‘ schwer verdaulich und scheint banal“, meint Metzger; dabei sei er „mit seinen kräftigen, farbigen Figuren“ doch „pralles Theater, das auf’s Gemüt geht“. Und so hofft er, dass seine Inszenierung in der Kirche mit Orgel- und Percussionsbegleitung zum „Theater-, Raum- und Klangerlebnis“ wird.


Und wie sie das wird!

Hottgenroth / Jedermann (Foto: Landestheater)

Die Detmolder Martin-Luther-Kirche braucht sich als Spielort vor der Salzburger Domfassade keinesfalls zu verstecken. Natürlich: eine steil-schräge Rampe als Symbol für die Abschüssigkeit und Abgründigkeit menschlicher Existenz ist recht abgegriffen. Und dennoch: vor der Kulisse des (neo-)gotischen Chores mit seinen farbigen Fenstern beeindruckt dieses einfache Bühnenbild (von Pia Wessels), das zusätzliche Wirkung gewinnt durch eine den Hintergrund abschließende Spiegelwand, die im Laufe des Spiels für zusätzliche Reflexionen sorgt. Flankiert wird die Bühne zur Rechten von der Kanzel – dem idealen Ort für die diversen Predigten im „Jedermann“ – und zur Linken vom riesigen Geldschrank, den man eigens für das Spiel vom reichen Mann in die Kirche gestellt hat (und von dem noch zu sprechen sein wird). 

Man muss gar nicht religiös sein, um einen gewissen Schauder zu verspüren, wenn in diesem ehrwürdigen Ambiente die Darsteller unter Orgelklängen in feierlichem Zug durch den Mittelgang einziehen, um das „Spiel vom Sterben eines reichen Mannes“ aufzuführen. Damit beginnt nämlich Metzgers Inszenierung. Die originale „faustische“ Dramaturgie des „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ wurde aufgebrochen, Hofmannsthals „Prolog im Himmel“ gestrichen, in dem Gott aus Enttäuschung über die verderbte Welt seinen Boten Tod ausschickt, um „Jedermann zu richten nach seinem Teil“. 

Baumgarten, Hottgenroth / Tod, Jedermann

In Detmold sitzt Gott (Melanie Tóth) mitten im Publikum; und wohl kaum jemandem dürfte von Anfang an das Dreifaltigkeits-Auge auf ihrem unscheinbaren Sweatshirt aufgefallen sein. Erst als der reiche Jedermann den armen Schuldknecht und dessen Familie brutal abweist, kann sie nicht mehr an sich halten:


„Fürwahr mag länger das nit ertragen,
dass alle Kreatur gegen mich
ihr Herz verhärtet böslich.“ 


Jetzt erst klettert sie über Kirchenbänke nach vorne um Gerechtigkeit walten zu lassen. (Als ob das, selbst für eine Gott, so einfach wäre ...)

Dies soll nicht der einzige gute Regieeinfall bleiben. „Wir sind von Hofmannsthals monologischem Text verstärkt zum Dialogischen, Theatralischen gegangen“, hat Dramaturg Katzschmann versprochen. Und davon profitiert gerade auch die Buhlschaft, die ja vergleichsweise wenig Text hat. Der todgeweihte Jedermann bittet ja nun wirklich jeden Greifbaren, ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten – nur ausgerechnet seine Freundin nicht. Dieser erstaunliche Mangel wird von Metzger geheilt – mit dem ganz einfachen Mittel der Wiederholung. Wenn Jedermann während des Gelages von der Geliebten wissen will:


„ Bleibst du bei mir?
Willst dort bei mir sein so wie hier?
Willst mich geleiten nach der Stätte
Und teilen mein eiskaltes Bette?“


- dann klingt diese Frage zu vermeintlich noch guten Zeiten harm- und konsequenzlos, allenfalls skurril-morbid. Sie wird aber existentiell in der Wiederholung, wenn der Tod tatsächlich wartend bereitsteht. Metzger weist der Buhlschaft einen faszinierenden Ausweg. Eine Antwort hat Hofmannsthal ja nicht vorgesehen; und Metzger leiht sich diese Antwort vom jungen Elvis Presley:


“Softly, I will leave you softly
For my heart would break if you should wake and see me go
So I leave you softly, long before you miss me
Long before your arms can beg me stay
For one more hour or one more day
After all the years, I can't bear the tears to fall.”


Wer vom Auszug der jungen Frau (Anna Katharina Schwabroh) mit diesem Lied auf den Lippen zu Tränen gerührt wird, braucht sich dessen nicht zu schämen (und wer noch mehr Druck auf die Tränendrüse braucht, der möge auf Youtube  nachhören, wie Elvis himself „the true story“ hinter diesem Song zum besten gibt).

Aber keine Angst – trotz des ersten Themas ist nicht das ganze Stück derart rührselig. Nein, Metzger behält mit seinem „prallen Theater“ recht, gerade auch was die Komik anbelangt. So wird aus der Not des Personalsparens die Tugend des Witzes: Wenn Jedermann verlangt, sein Frühstück müsse aber frisch zubereitet werden, so wird dafür in Detmold kein Diener herbeizitiert, sondern der Auftrag telefonisch weitergeleitet, wobei der Adressat kurzerhand auf den Namen Max getauft wird, so dass also der Butler in sein Handy rufen kann: „Max! Frisch!“

Später, wenn der Teufel von den (weiblichen) „Werken“ und „Glauben“ daran gehindert wird, die sicher geglaubte Seele Jedermanns zu holen, schimpft er: „Gehst du zum Weibe – vergiss die Peitsche nicht“ (und gibt gleich selber zu: „Das steht so nicht in dem Gedicht“). Wer die liebe Gott als Frau auftreten lässt, dem mag dieses (ebenso bekannte wie falsche / falschverstandene) Nietzsche-Zitat erlaubt sein (zumal auch Hofmannsthals Originaltext nicht frauenfreundlicher ist: „Ah! Weiber! Fastensupp und Schläg – das ist, wie ich sie halten tät!“).

Klinder, Hottgenroth / Guter Gesell, Jedermann

Allerdings: dieser Teufel ist doch gar zu derb klamaukig, erinnert gar zu sehr ans Kasperletheater. Dabei liefert Henry Klinder insgesamt die hervorragende Schauspielerleistung ab, die man von ihm gewohnt ist. Als „guter Gesell“ ist er Jedermanns Manager, Butler, Bodyguard ... und nicht nur wenn er mal hinkt, als ob er einen Klumpfuß hätte, fragt man sich, ob er hinterher den Teufel als zweite Rolle spielt, oder ob er von Anfang an auch Jedermanns Mephisto ist (s. a.  Faust I, 1646).

Hottgenroth, Klinder / Jedermann, J.s Mutter

Auch sonst laufen die Darsteller in der Kirche zu großer Form auf. Adrian Thomser etwa als akrobatischer dünner Vetter; Kerstin Klinder sowieso, als Mutter und Glaube. Und Philipp Baumgarten als androgyner Tod: schrecklich-schön und fürchterlich-attraktiv!

Und schließlich: Markus Hottgenroth! Nein, der verdankt die Rolle nicht nur seinen vier Semestern Theologie. Der hat sie sich mit seiner Schauspielkunst verdient! Den selbstbewussten Reichen und jovialen, bonbonverteilenden Kinderfreund; dann den von unerwarteten (Herz-? oder Magen-?) Attacken plötzlich heimgesuchten Mann in den besten Jahren; schließlich den ängstlichen armen Sünder – all das könnte man vermutlich noch mit Worten beschreiben. Das kalte Entsetzen aber, das diesen Hottgenroth/Jedermann packt, wenn die „Jedermann“-Rufe erschallen – das muss man einfach gesehen haben.



Schließlich, Herr Metzger, Ihre Auffassung in allen Ehren, dieses Stück bedürfe eines religiösen Zugangs! Und wer wollte es Christa Willwacher-Bahr, Pastorin an der Luther-Kirche, verdenken, dass sie „den alltäglichen Jedermann, den Menschen, der das Ende verdrängt“ aus einer theologisch-seelsorgerischen Perspektive sieht?

Aber: Als Atheist kann man – gerade auch – diese Inszenierung auch ganz anders deuten: als Allegorie auf den unsere Gegenwart beherrschenden Finanzkapitalismus und seine (seine??) Krise. Fast möchte man sich wundern, dass Hofmannsthal dieses Stück vor etwas mehr als 100 Jahren geschrieben habe. Man erinnert sich: die Finanzkrise begann damit, dass amerikanische Hauskäufer zu Tausenden ihre Hypotheken nicht mehr abzahlen konnten – ja, kein Wunder:


„Ein Häusel baun mit fremdem Geld,
Wer also haust, um den ists so bestellt.
Das ist seit Adams Zeit der Lauf ...“


Jedermanns Klage über die Sorgen des „hart geplagten“ reichen Mannes, seine Vorlesung über den Nutzen des Geldes (übrigens: wie eine Predigt vom großen Geldschrank – dem Gegenstück zur Kanzel – herab gehalten) könnten auch heute im Wirtschaftsteil der „WELT“ stehen. Und dass der Mammon wichtigster Götze (wo nicht Gott) ist, gilt für die heutige Gegenwart wie für die vor 100 Jahren, als Hofmannsthal  des Schuldknechts Weib klagen ließ:


„Gibst da dem Mammonsbeutel Ehr,
Als obs das Tabernakel wär“


- was dann in Metzgers Inszenierung wunderschön illustriert wird, wenn Klinder alias „guter Gesell“ (oder doch: Mephisto?) den Geldschrank unter brausenden Orgelklängen so ehrfurchtsvoll öffnet, als obs tatsächlich das Tabernakel wär.

Und das Ende? Wenn der unse(e)lige Finanzkapitalist die Karre in den Dreck gefahren hat?  Dann ist plötzlich die höhere Instanz da (die er sein „Leben lang verlacht“ hat!) und rettet ihn! Und wer auf der gerechten Strafe bestehen will, wird  „verteufelt“ und zieht sich schließlich frustriert in den Untergrund zurück. Ach, und übrigens: dass diese so gütige höchste Instanz den Schuldknecht wieder aus dem Turm („Knast“ heißt es bei Metzger aktualisierend) geholt hätte, davon ist nirgends die Rede. 


Landestheater Detmold:

 

Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes

von Hugo von Hofmannsthal

 

 

Regie:   Kay Metzger  
Ausstattung:   Pia Wessels  
Dramaturgie:   Christian Katzschmann

Gott der Herr / Werke:   Melanie Tóth  
Tod:   Philipp Baumgarten  
Teufel / Jedermanns guter Gesell:   Henry Klinder
Jedermann:   Markus Hottgenroth  
Jedermanns Mutter / Glaube:   Kerstin Klinder  
Ein Schuldknecht / Dünner Vetter:   Adrian Thomser
Ein armer Nachbar / Dicker Vetter:   Jürgen Roth  
Des Schulknechts Weib / Ein Fräulein:   Claudia Mooz  
Buhlschaft:   Anna Katharina Schwabroh  
Mammon:   Jürgen Roth / Adrian Thomser / Claudia Mooz

Orgel:   Christoph Lowis  
Marimbaphon und div. Percussions:   Marinos Tranoudakis  

 

Nächste Termine
jeweils 19:30 – ca. 21:25 Uhr
in der Martin-Luther-Kirche

23.02.2013  
27.02.2013
28.02.2013