Erschreckend aktuell:
Detmolder Sommertheater zeigt den Schock-Klassiker „A Clockwork Orange“
Erschreckend aktuell ?
g.wasa - Detmold. - Wie aktuell ist dieses über 60 Jahre alte Buch tatsächlich? In den Tagen rund um die Detmolder Premiere konnte man eine Reihe von Presseartikeln finden, die – einerseits - über exzessive Jugendkriminalität berichten, oder die – andererseits – England auf dem Weg in die Autokratie sehen. Nur zwei Beispiele:
„Mehr Angriffe durch Minderjährige.
Die Gewaltkriminalität in Deutschland erreicht einen neuen Höchststand.
Laut Polizeistatistik schlagen immer häufiger Kinder und Jugendliche zu …“
(SPIEGEL Nr. 14/2025, S. 20)
„Britische Rechtspopulisten in Umfrage erstmals stärkste Kraft
Rechtspopulist Nigel Farage setzt die etablierten britischen Parteien
immer stärker unter Druck. Mit Reform UK landete
er in einer wichtigen Umfrage erstmals auf Platz eins.“
( Spiegel-online 04.02.25)
Die Vorlage(n): Kult-Buch (und -Film)
1962 veröffentlichte der englische Schriftsteller ANTHONY BURGESS den dystopischen Roman A Clockwork Orange. Die „Time zählt diesen Roman zu den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden. 2015 wählten 82 internationale Literaturkritiker und -wissenschaftler den Roman – aller Kritik (s.u.) zum Trotz! - zu einem der bedeutendsten britischen Romane“ (Wikipedia) - Zusätzliche Popularität gewann das Buch 1971 durch STANLEY KUBRICKs kongeniale Verfilmung.
Der Autor
Der englische Schriftsteller ANTHONY BURGESS (John Anthony Burgess Wilson; * 25.02.1917 in Manchester, † 22.11.1993 in London) hat ein umfangreiches literarisches Œuvre hinterlassen. A Clockwork Orange ist sein bekanntester Roman, wobei er sich – verständlicherweise, angesichts seiner breiten künstlerischen Spannweite – ärgerte, in der öffentlichen Meinung darauf reduziert zu werden. Neben der Literatur faszinierte ihn die Musik, doch erreichten seine zahlreichen Kompositionen bei weitem nicht die Resonanz seiner Bücher. – Mehr zu BURGESS im Programmheft, in Wikipedia und in der Roman-Besprechung. Hier sei nur ein Ereignis erwähnt, das sich so ähnlich in „Clockwork Orange“ wiederfindet: Während er mit der Army in Gibraltar war, wurde seine in England zurückgebliebene Ehefrau von vier US-Soldaten überfallen und vergewaltigt und erlitt in der Folge eine Fehlgeburt.
Ein Schock-Stück?
Tatsächlich ist die entsprechende Szene – der Überfall auf ein Schriftstellerpaar und Gruppenvergewaltigung der Frau – eine der brutalsten im Roman (und erst recht später im Film). Es bleibt nicht die einzige – kein Wunder, dass A Clockwork Orange von Anfang an umstritten war und zeitweise unter Verschluss gehalten wurde. Als das Landestheater Detmold das Stück vor knapp 20 Jahren schon mal auf die Bühne brachte, erhielten die Abonnenten vor der Premiere ein Schreiben, das man heute wohl als „Trigger-Warnung“ bezeichnen würde.
Heute schreibt das Landestheater Detmold zu seiner Bühnenfassung:
„Der Stoff kreist um die große Frage, welche Rolle Gewalt in der Gesellschaft spielt. Was erzeugt Gewalt? Gibt es einen Teufelskreis, aus dem selbst ehemalige Opfer kein Entrinnen finden? Erzeugt Gewalt zwangsläufig Gegengewalt? Darf Gewalt durch Gewalt geahndet werden? Wie wird der Mensch ein besserer Mensch?“
Die Story:
Der knapp 16-jährige Alex zieht mit seinen drei „Droogs“ durch die öden Vororte in einem dystopischen London. Sie klauen Autos, verprügeln Passanten, vergewaltigen auf brutalste Weise, brechen in Häuser ein und terrorisieren die Bewohner. Alex wird geschnappt und zu 14 Jahren Knast verurteilt. Doch schon bald wird er als Versuchsperson für das „Ludovico-Verfahren“ ausgewählt: eine Aversionstherapie, bei der er derart mit Filmen von grausamsten Brutalitäten überflutet wird, dass selbst er dadurch „geheilt“ wird, was bedeutet: Wenn er auch nur an Konfrontation denkt, wird er vor Übelkeit handlungsunfähig. Sein Problem: Die Filme sind mit klassischer Musik unterlegt, und der leidenschaftlichen Klassik-Liebhaber Alex kann ab jetzt die Musik von „Ludwig van“ & Co. so wenig ertragen wie Gewalt und Sex .
Als „geheilt“ entlassen, wird der bisherige Täter zum verprügelten und gedemütigten Opfer. Und er wird zum Spielball der Politik. Die Systemgegner instrumentalisieren ihn als Gehirnwäsche-Opfer des Regimes. Doch dann erkennt ihn eines seiner früheren Opfer und treibt ihn – indem er ihn klassischer Musik aussetzt – in den Selbstmord. Doch Alex überlebt den Sturz aus großer Höhe; und während des Genesungsprozesses heilt nicht nur sein Körper, sondern auch sein Charakter: Er wird wieder der alte. Und das Regime arrangiert sich mit ihm ( ausführlicher ) .
Die Inszenierung
Für Regisseurin Konstanze Kappenstein ist „Gewalt nicht das Spannende am Roman“ (Programmheft). In der Stück-Einführung wird richtigerweise „die große Frage (gestellt), ob ein Mensch gut sein kann, wenn ihm die Wahl des Bösen verwehrt wird“, es geht also auch um den unter Psychologen und Philosophen heftig diskutieren Gegensatz „Determinismus ./. Willensfreiheit“ (mehr dazu in meiner Roman-Besprechung). So weit so gut. Doch erstaunlicherweise geht sie auf dieses Thema nicht weiter ein, fabuliert vielmehr wolkig von Gewalt „als Metapher für eine Überhöhung von menschlichen Affekten“.
Als Träger solch menschlicher Affekte – und damit als Individuum – sieht sie dann allein Alex, wogegen „alle (anderen) Figuren im Stück (nur) Zahnräder im System“ seien, die „eher wie Maschinen funktionieren als wie Menschen“.
Von Anfang an verdeutlicht die Inszenierung diese Dichotomie: Alex ist Teil „unserer“ Welt. Er erhebt ich aus der Mitte des Publikums und fängt an, seine Geschichte zu erzählen (irgendwann denkt man schon, man wäre in einem Hörbuch: zu viel Erzählung, zu wenig Action – aber das wird sich noch ändern).
Da sind seine Mit-/Gegenspieler noch auf der Bühne eher verborgen als präsent: in einem düsteren Halbdunkel, hinter einem dünnen schleierartigen Vorhang. Als sie dann zum Leben erwachen, vermitteln sie den Eindruck von Chaos: mit ihrem wilden Gerenne, dem schwerverständlichen Geschrei mit sich überschlagenden Stimmen; das alles dupliziert durch Live-Aufnahmen, die überlebensgroß auf den Vorhang projiziert werden … Mag sich der Zuschauer an dem Durcheinander stören – es ist aber Absicht. Kappenstein will „das Publikum in eine Art Rausch versetzen“, beabsichtigt „eine komplette Überdröhnung, fast schon Überforderung der Sinne“. Nun gut.
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Eine gute Idee: Die Gewaltszenen bleiben zwar erhalten (sie gehören nun mal zur Geschichte), doch bleiben die schlimmsten Brutalitäten hinter einer Nebelwolke verborgen. Auf die Trigger-Warnung kann man also verzichten.
Enttäuschend: die Musik
Enttäuscht wird dagegen, wer dem Einsatz von Musik mit erwartungsvoller Spannung entgegengesehen hat. (Zur Bedeutung der Musik im Roman: s. Buch-Kritik.)
Es mag 50 Jahre her sein, dass ich Kubricks Film gesehen habe, aber der wuchtige Einsatz der Musik ist mir bis heute in Erinnerung. Und jetzt, im Sommertheater? Anstelle von „Ludwig van, Fünfte Sinfonie, letzter Satz“ oder der „Jupitersinfonie von dem himmlischen Mozart“ gibt’s nur ein flaches, fast schon atonales Gedudel. Besonders ärgerlich ist das in einer Schlüsselszene der Geschichte: In der Stammkneipe der Bande „ließ eine Frau einen Schwall Töne heraus … und mir war als käme ein großer Vogel in die Milchbar geflogen, und ich spürte, wie alle Härchen auf meiner Haut sich aufstellten … da ließ der brave Doofie eine seiner Unflätigkeiten los, einen Lippenfurz, gefolgt von Hundegejaul“. Mit den Prügeln, die Alex seinem Kumpel daraufhin verpasst, beginnt die Entfremdung zwischen den Droogs, die dann zu Alex‘ Verhaftung führt. Im Roman entstammt dieser „Schwall Töne“ einer fiktiven Oper, in Kubricks Film ging es (wenn ich mich recht erinnere) um die „Ode an die Freude“. Und hier? Ein fast schon sirenenartiges an- und abschwellendes „iiIIIiiiIIIiii“. Was Wunder, dass der „brave Doofie“ darauf mit seinen „Unflätigkeiten“ reagiert!
Dabei haben die Darstellerinnen doch erst kürzlich in der „Dreigroschenoper“ unter Beweis gestellt, dass sie sehr wohl zu einem ordentlichen musikalischen Beitrag in der Lage gewesen wären!
Apropos „Doofie“: Im englischen Original heißt er Dim, und er ist der Einzige, der vom Übersetzer Wolfgang Krege einen deutschen Namen bekommen hat – um so auf seine geistige Beschränktheit hinzuweisen. Da ist es kontraproduktiv und albern, wenn er in Detmold „Duufi“ ausgesprochen und so quasi ins Englische zurücktransponiert wird.
Publikum und Darsteller:
In den fünf Reihen, die ich überblickte, hat nur ein Paar nach einer halben Stunde den Saal verlassen. Auf Instagram jubelte das Landestheater dann über „stehende Ovationen“ und „nicht enden wollenden Beifall“. Ich weiß nicht, wann ein "nicht enden wollender Beifall" aufhört, aber ich sag mal so: Ich kam an diesem Abend nicht allzu spät nach Hause. Und stehende Ovationen gab es tatsächlich: in einem Teil des Saales, den ich bei mir dann als „Fan-Block“ interpretiert habe. Ich selber und die Zuschauer in meiner (weiteren) Umgebung haben sich daran nicht beteiligt.
Soll aber nicht heißen, dass der – ja, durchaus! – kräftige Beifall nicht verdient gewesen wäre. Emanuel Weber hat den Täter-Opfer-Täter Alex hinreißend gestaltet. Und alle anderen sind schon allein dafür zu loben, wie sie bis zu zehn oft sehr unterschiedliche (teils natürlich nur Mini-) Rollen mit der nötigen Differenzierung auf die Bühne gebracht haben
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Landestheater Detmold – Sommertheater:
A Clockwork Orange
Nach dem Roman von Anthony Burgess
in einer Fassung von Konstanze Kappenstein
Besetzung
Regie Konstanze Kappenstein
Bühne und Kostüm Jule Dohrn-van Rossum
Dramaturgie Magdalena Brück
Video K. Kappenstein / Lina Pris
Licht Sebastian Dörenmeier
Ton Dieter Schweitzer
- Alex
Emanuel Weber
- Top-Tschasso
Joe
Billyboy
Krankenschwester 2
Rick Paul Enev
- Doofie
Aufpasser Leonard Lange
- Bardame
Frau
P.R. Deltoid
Polizistin 2
Pfarrerin
Dr. Brodsky
Anderer Mann Katharina Otte
- Bardame 2
Polizistin 1
Clockwork Orange-Mann
Katzenfrau
Polizistin 3
Direktorin
Schwester
Mamm
Bibliothekar
Minister Ewa Noack
- Tattertyp
Bardame 3
Vater
Polizistin
Innenministerin
Dr. Branom
Einer
Minister 2 Alexandra Riemann