Wann ist eine Giraffe keine Giraffe mehr?
60 Jahre deutsch-türkische Geschichte auf der Grabbebühne
g.wasa - Detmold. - Die über 60-jährige Geschichte der Türken in Deutschland. In 1 ½ Stunden und 1 ½ Dutzend knappen Szenen. Präsentiert von 5 Darstellern auf der kleinen Bühne des Detmolder Grabbe-Hauses. Geht das? Wir werden sehen.
Wie viele Türken leben in Deutschland? Das BAMF spricht von „2,9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Davon hatte etwa die Hälfte die türkische Staatsangehörigkeit (1,5 Mio.)“, also etwa 3,4 % bzw. 1,8 %, deutlich weniger, als die meisten schätzen. Aber was ist ein Türke? Seit dem „Anwerbeabkommen für Gastarbeiter“ (1961), haben sich vielerlei Entwicklungen ergeben. Aus „Mischehen“ gingen Halb-, Viertel-, Achtel-Türken hervor. Es gibt immer noch Frauen mit Kopftuch und ohne Deutschkenntnisse, und es gibt die perfekt Integrierten: Im eben gewählten Bundestag sitzen neben dem schwäbischen Türken und Noch-Minister Cem Özdemir weitere 10 Abgeordnete mit türkischen Wurzeln.
Die Bühne: Teppich-Ambiente
Kurz: ein vielfältiges Bild, ein Flickenteppich. Ein Flickenteppich empfängt auch den Zuschauer beim Betreten des Theatersaals. Doch nein, falsch: Es ist ein Ensemble, eine Sammlung von wertvollen (zumindest wertvoll wirkenden) Orient-Teppichen, welche die ganze Bühne einschließlich der Rückwand einnehmen (übrigens: von Theaterfreunden für die Inszenierung gespendet). Damit wird schon mal klar: Wir befinden uns nicht in einer schäbigen Gastarbeiter-Unterkunft, sondern in einer (gehoben-)bürgerlichen Wohnung.
Es ist dann allerdings ein Flickenteppich, den uns der Autor Akın Emanuel Şipal da als Geschichte einer türkisch-deutschen(-schlesischen …) Familie präsentiert. Vielleicht (vielleicht!) der ideale Autor, denn schließlich ist es die Geschichte SEINER Familie.
Der Autor …
… wurde 1991 in Essen geboren. Er studierte Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, schrieb Drehbücher für eine Reihe von Filmen und wurde dann vor allem als Dramatiker bekannt, war Hausautor am Nationaltheater Mannheim und dann am Theater Bremen. Neben anderen Ehrungen erhielt er 2022 den Publikumspreis der renommierten Mülheimer Theatertage für „Mutter Vater Land“ – dem Stück, das Şipals Familiengeschichte rekapituliert:
Die Familiengeschichte
Sein Großvater, Kamuran Şipal, kam 1957 zur Promotion nach Münster, heiratete dort eine aus Schlesien stammende Deutsche. Im Ruhrgebiet wird er nicht heimisch. Auch die anderen Familienmitglieder tun sich hier schwer. Immer wieder wird der Gegensatz thematisiert zwischen öden, „dreckigen“ Ruhrgebietsstädten wie Gelsenkirchen und der herrlichen Metropole Istanbul („Ich vermisse das Wasser. Ich vermisse die Sonne“). Der Großvater kehrt also nach Istanbul zurück, wo er als Übersetzer und Literat wirkt. Seine Frau bleibt in Deutschland, die Kinder und Enkel leben mal in Istanbul, mal in Deutschland. Kamuran Şipals Übersetzungen (rund 60 deutsche Klassiker, u. a. Brecht, Hesse, Kafka, Sigmund Freud …) erzielen hohe Auflagen und machen ihn zum Vermittler deutscher Kultur in der Türkei.
Deshalb war sein Enkel sehr enttäuscht, dass das Werk des Großvaters in Deutschland keine hinreichende Beachtung fand, auch nicht beim Goethe-Institut Istanbul: „Er hat keinen Nachruf bekommen, was ich schade finde. Dann habe ich gedacht, ich mache das. … auch mit diesem Stück.“
Das Stück – die Story:
Aus dem Nachruf für den Großvater wird dann eine Familienchronik über vier Generationen. Man mag sich fragen, warum er diese Chronik nicht chronologisch, linear erzählt, sondern in bunt durcheinandergewürfelten Episoden. (Ketzerische Abschweifung: Wären die Buddenbrooks wohl „der“ Jahrhundertroman geworden, wenn Thomas Mann die Geschichte der vier Generationen auf diese Weise dargestellt hätte? Aber Şipal wollte ja wohl keinen 700-Seiten-Roman schreiben.)
Und so bekommen wir also einen kaleidoskopartigen Überblick über 70 Jahre Familiengeschichte und nebenbei 70 Jahre deutsch-türkische Geschichte. In den kurzen Episoden steht mal der Großvater im Zentrum, der sich gegen den Vorwurf wehrt, ein Macho zu sein; mal der Enkel, dem ein zynisch-selbstgefälliger Professor am ersten Tag an der Filmhochschule seine Illusionen zu rauben trachtet; mal die schlesische Urgroßmutter, die mit dem Schirm auf den künftigen Schwiegersohn losgeht (weil er ein brotloser Künstler ist: „Künstler – Parasit. Heute Künstler, morgen Stricher.“? Oder doch, weil er Türke ist?).
Dem Kreuz und Quer zwischen den Personen entspricht ein Hin und Her in der Zeit. 1980: Militärputsch in der Türkei. 1957: Opa promoviert in Münster. 2010: Istanbul ist europäische Kulturhauptstadt. 1984: die Eltern gehen zurück in die Türkei; die Tochter steht vor dem Abitur, der Sohn vor dem medizinischen Staatsexamen: sie bleiben. 2006: Orhan Pamuk erhält den Literatur-Nobelpreis; der Opa meint, den hätte er selbst eher verdient („Pamuk hatte gute Übersetzer“). 1973: eine der anrührendsten Szenen: die Mutter zieht nach Deutschland, muss die Tochter zurücklassen, da es verboten ist, Kinder mitzubringen. Die Fünfjährige: „Können denn Kinder verboten sein?“
Auch die Darstellungsformen wechseln: Mal nüchterne Ansage, mal Monolog, mal Streitgespräch (über doppelte Staatsbürgerschaft). Besonders beeindruckend: Pantomimen: gleich zu Beginn: alle machen die Teppiche sauber (soll damit ein Vorurteil „Türken sind dreckig“ widerlegt werden?). Und ein wahres Kabinettstückchen: Die pantomimische Darstellung: „Wir bekommen ein Kind“.
Das Landestheater hilft, dieses Geflecht zu überschauen, indem es die Jahreszahlen ansagen lässt und indem es dem Publikum einen Stammbaum zur Verfügung stellt. Trotzdem: man muss sich schon sehr konzentrieren, um den Überblick zu behalten. Aber das macht nichts, man erkennt sehr gut das große Ganze und man erahnt die Absicht.
Die Absicht
Was beabsichtigt Şipal mit seinem Stück? Einen Nachruf auf den Großvater, ja, und davon ausgehend eine Familienchronik, klar. Aber es geht um mehr: Um das Verhältnis Deutsche – Türken. Immer mal wieder klingt Alltags-Diskriminierung an, zum Beispiel in der Schule. Oder Alltagsrassismus (soll es eine Art Selbstironie sein, wenn die Großmutter meint, in der Klasse der Enkelin sei „ein Schwarzer, der aber gut Deutsch spricht“ – ein Lob, das empfindsame Gemüter bereits als Rassismus brandmarken). Und die Vorurteile: Türken sind Machos, Frauen tragen Kopftuch, wollen sich nicht integrieren … Vorurteile, die bis in die Familie hereinreichen. Für die Oma – „Ich kenne die Türken, ich bin mit einem verheiratet“ – ist klar, als ihr Fahrrad geklaut wird: „Das waren Türken“. Die Türken sind nun mal so: „Eine Giraffe ist eine Giraffe und ein Türke ist ein Türke“.
Die Tochter wehrt sich vehement gegen diese Vorurteile: „Solche Türken mag es ja geben. Aber ich kenne keine solche.“ Soll wohl heißen: Das sind Ausnahmen, Einzelfälle, aber die Mehrheit ist wie wir.
Wirklich? Wie gut kennt die Familie Şipal tatsächlich die Mehrheit der Türken in Deutschland? Die nicht in einem literarisch-akademisch-geprägten Milieu leben, sondern bei Ford am Fließband stehen, in Bochum die Mülltonnen leeren?
Wie ein roter Faden zieht sich der Vorwurf durch das Stück: Ihr Deutsche versteht uns Türken nicht. Ihr wollt uns gar nicht verstehen. - Dass sein Großvater von der deutschen Kulturwelt ignoriert wurde, ist für Şipal nur ein Beispiel. An anderer Stelle sagt er:
„Natürlich bin ich manchmal wütend und frage mich: Wo ist die türkische Literatur in Deutschland, wo ist die islamische Philosophie? Wo ist die türkische klassische Musik, die türkische Kunstmusik, die türkische religiöse Musik? Da ist so viel gutes Zeug, und in Deutschland ist kaum was angekommen. Was stört den Transport?“ (zit. n. Simone Sterr über Şipal in Theater der Zeit, 7/2020).
Das gipfelt in: „Die Deutschen mögen uns nicht“. Für euch sind wir immer noch die aggressiven „Türken vor Wien“ (1529 und 1683) oder gar die antiken asiatischen Reiterhorden mit Pfeil und Bogen.
Mag sein. Aber der aufgeklärte, der weltoffene Deutsche könnte da antworten: „Solche Deutsche mag es ja geben. Aber ich kenne keine solche.“
Die Darsteller und das Publikum
Das Publikum wird sich selbst wohl überwiegend den eher weltoffenen Deutschen zugerechnet haben. Der kräftige Schlussapplaus bedeutete wohl auch ein Bekenntnis zur Solidarität mit „den Türken“, eine Distanzierung vom Vorwurf „Ihr mögt uns nicht“. Aber gewiss galt der Beifall auch den phantastischen Darstellern, die – beispielsweise – die zahlreichen und rasch aufeinanderfolgenden Rollenwechsel (von der Urgroßmutter zur Enkelin, nur als Beispiel) souverän gemeistert haben.
Landestheater Detmold – Bühne im Grabbehaus:
Mutter Vater Land
Schauspiel von Akın Emanuel Şipal
Besetzung
Regie Christina Gegenbauer
Bühne und Kostüm Frank Albert
Musik Nikolaj Efendi
Dramaturgie Katrin Aissen
Licht, Ton & Technik Dirk Pysall
Alter Ego Adrian Thomser
Mutter, Uroma (Breslau) Stella Hanheide
Vater, Onkel, Lehrer Hartmut Jonas
Oma (Anneanne), Oma (Breslau) Manuela Stüßer
Opa (AUTOR), Filmprofessor Patrick Hellenbrand