Ein vielversprechendes Menü
Landestheater Detmold stellt Spielplan 2025-26 vor
Haben Sie gewusst …
… dass Jeremiah Peachum, der fiese Bettlerkönig aus der Dreigroschenoper, gelegentlich beim Kaffee im Café Cup anzutreffen ist? Ebenso wie der deutsch-türkische Kulturvermittler Kamuran Şipal? Beide („natürlich“) in Person ihres gemeinsamen Landestheater-Alter-Egos, des Schauspielers Patrick Hellenbrand. Oder die liebenswerte Schiffbrüchige Viola alias Stella Hanheide in der Buchhandlung Kafka? Oder …
Aber schauen Sie doch selbst! Wer sich den Sängerinnen, Schauspielern, Tänzerinnen unseres Landestheaters ebenso verbunden fühlt wie unserer Heimatstadt Detmold, der wird die 160 Seiten der Spielplan-Broschüre 2025/26 voll Spannung durchblättern, um zu entdecken, welches die Lieblings(?)Plätze seiner Lieblings-Künstler sind. Eine tolle Idee der Heft-Macher!
Dabei richtete sich meine heftige Spannung doch ursprünglich auf etwas ganz anderes, als ich – endlich – nach dem Spielplan 25/26 greifen konnte: Auf welche Theater-Klassiker dürfen wir uns in der neuen Spielzeit ab August freuen? Mit welchen zeitgenössischen (Mach-)Werken werden uns die Theatermacher plagen? In welches Weihnachtsmärchen werden wir unsere Enkel begleiten?
Motto: „In Gesellschaft“
Eigentlich halte ich nichts von einem Spielzeit-Motto. Das Publikum nimmt es meist kaum zur Kenntnis, und nach meinem Eindruck haben auch die Theatermacher es spätestens bei der vierten Inszenierung vergessen (immer noch besser, als sie ließen sich in ein Motto-Korsett zwängen).
Aber diesmal? „In Gesellschaft“? Mit Vokabeln wie „Recht / Unrecht“, „Verantwortung“, „Toleranz“, „Haltung“, „freiheitliche (Kultur-)Gesellschaft“ lenkt uns Intendantin Kirsten Uttendorf zu der Frage „Was macht unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt aus?“, aber auch „Wo stoßen wir an unsere Grenzen?“. Man muss nicht den globalen oder auch nur den bundesrepublikanischen Hintergrund skizzieren, um die aktuelle Bedeutung dieser Stichworte, dieser Fragen einzuschätzen. Natürlich wird unser Landestheater die Probleme nicht lösen, noch nicht einmal die Fragen beantworten können. Aber zur Absicht, für all das „einen wachen Sinn ‚in Gesellschaft‘ zu stärken“ – dafür kann man nur Erfolg wünschen!
Und was spielen sie denn nun?
Was sie uns vorsetzt, ist ein reichhaltiges, ein vielseitiges, ein appetitmachendes Menü, aus dem sich hoffentlich jeder seine ganz persönlichen Leckerbissen herausklauben kann. Eine ausführliche Darstellung aller Inszenierungen (auch der Konzerte) finden Sie in der bequem erreichbaren Spielzeitbroschüre.
Musiktheater:
„La Traviata“ – bereits der Titel („die vom Weg Abgekommene“) deutet auf die Schwierigkeiten einer Außenseiterin hin, in der Gesellschaft zu leben. Im Übrigen ist die Verdi-Oper natürlich eine Praline für jeden klassischen Opernfreund, ebenso wie Rossinis „Reise nach Reims“. Als Neuentdeckung könnte man dagegen „The Wreckers“ bezeichnen: eine spätromantische Oper mit brisantem Inhalt der englischen Komponistin Ethel Smyth (1858-1944).
‚Eine Händel-Oper – ach du meine Güte‘, dachte ich vor ein paar Jahren bei „Xerxes“ und bin dann doch hingegangen (‚weil das Ticket nun mal bezahlt war‘) - - > Welch ein Erlebnis! Da bin ich jetzt doch auf die Geschichte der Zauberin „Alcina“ gespannt.
„Das schlaue Füchslein“ gilt als das „reife Alterswerk“ des Tschechen Leoš Janáček. Diese Oper über Menschen und Tiere verbindet „Naturliebe“ mit „Verständnis für alles Menschliche“ – ein „Familienstück“ für Musikfreunde ab 10.
„Das Glück ist eine Orange“ – komischer Titel? Und nie gehört! Kein Wunder! Wir dürfen uns auf die Uraufführung eines Auftragswerkes freuen. Der Untertitel lässt auf Erfreuliches hoffen: „Sinalco – Das Musical! Eine Detmolder Geschichte“.
Wiederaufnahmen:
Falls Sie in der Saison 2024/25 nicht alles gesehen haben – das eine oder andere können / sollten Sie in der nächsten Spielzeit nachholen:
Schauspiel:
Die Deutschen können angeblich keine Komödie. Von den drei „Klassikern“, die Gnade vor den Augen der Literaturgeschichtler gefunden haben, bringt das Landestheater gleich zwei (der dritte, Lessings „Minna“, wird zur Zeit in Paderborn gespielt). Aber ob Kleists Geschichte von dem übergriffigen alten weißen Mann Adam wirklich komisch ist? Schließlich steht da nicht nur ein „zerbrochener Krug“ am Ende, sondern auch eine zerbrochene hoffnungsvolle Liebesbeziehung. Ob die in Wirklichkeit so leicht zu kitten ist wie auf dem Papier ???
Fast ein Gegenstück dazu ist die anarchisch-satirisch-melancholische Geschichte von den beiden Liebenden-wider-Willen, den Königskindern Leonce und Lena aus den Duodez-Fürstentümern Pipi und Popo. Büchner hat das Stück, das so anders ist als seine beiden „politischen“ Meisterwerke, für ein Preisausschreiben verfasst - angeblich in 14 Tagen, aber dennoch zu langsam: Es ging zu spät ein und wurde nicht berücksichtigt. Schade drum!
Soll sich der hochmütige Verächter deutscher Komödiendichtung doch an den Altmeister halten, an Molière, auch wenn dessen Stücke und erst recht dessen Personen doch reichlich schablonenhaft daherkommen. Dabei ist Alceste der wohl am wenigsten komische unter Molières Typen. Doch dieser unerbittliche Verfechter radikaler Wahrheit – und (deshalb:) Menschenfeind -, der sich am Ende aus Enttäuschung selbst aus der Gesellschaft ausschließt, ist heutzutage womöglich der interessanteste Repräsentant des Spielzeit-Mottos!
Überhaupt: Was ist der Mensch? Das Geschöpf Gottes, oder lieber: der Evolution? Jedenfalls: ein (noch) nicht perfektes Geschöpf, weshalb die Phantasie uralt ist, den besseren Menschen zu schaffen. Dass der entsprechende Versuch grandios schiefgehen kann, zeigte Mary Shelley in Frankenstein.
„Ein richtiger Mann ist rechts!“ – An das – gerade bei jungen Männern erschreckend erfolgreiche - Diktum des AfD-Rechtsaußen Krah erinnert man sich, wenn man Hensels Kommentar zu den Nashörnern liest: „Plötzlich wird es schick, sich in ein Nashorn zu verwandeln, in eine bösartige, alles zertrampelnde Bestie …“. Ionescos 65 Jahre alter Klassiker des absurden Theaters, diese „Tierfabel über Massenpsychose, Opportunismus und die Ansteckungskraft des Bösen“ könnte zum aktuellsten Stück einer Spielzeit mit dem Motto „in Gesellschaft“ werden.
Dabei kommen Gegenwartsstücke in diesem Spielplan – verdienstvollerweise! – nicht zu kurz. Mit Spannung darf man erwarten:
- Herkunft, nach Saša Stanišićs Bestseller von 2019, nimmt die Thematik von „Mutter Vater Land“ wieder auf, diesmal mit Blick auf das deutsch-jugoslawische Verhältnis.
- Das Leben zwischen zwei Kulturen – britisch / pakistanisch – zeigt auch Rabiah Hussain in Absprung.
- Bei Simone Kuchers Nach dem Essen denkt man an den Suppen-Kasper aus dem Struwwelpeter.
- Der kommt auch in seiner modernisierten Form als Shockheaded Peter auf die Bühne.
Für den traditionellen Theaterliebhaber ist eine Spielzeit erst mit Shakespeare vollkommen! Der alte weiße Mann „König Lear“ ist schon lange eine Herausforderung an den Feminismus. Dieser Herausforderung begegnet frau mal mit einer ausgesprochen feministischen Sicht auf den tyrannischen Patriarchen (Marlene Streeruwitz: Dentro. Was bei Lear wirklich geschah. – 2000 in einer spannenden Inszenierung in Bielefeld), oder auch einfach mal, indem das alte Ekel grandios von einer Frau dargestellt wird (besonders beeindruckend von der 80jährigen Marianne Hoppe, 1990 in Frankfurt).
Wenn jetzt in Detmold aus dem mittelalterlichen König nicht nur ein moderner Wirtschaftskapitän, sondern sogar eine Industriemagnatin wird, so darf man der Inszenierung erwartungsvoll entgegensehen – um so mehr, als Königin Lear von Tom Lanoye neu gefasst wurde (der hatte 1997 Aufsehen erregt, als er die acht Königsdramen zu dem neunstündigen Monumentalgemälde „Schlachten“ zusammengefasst hatte, für dessen deutsche Erstaufführung (1999) sogar der Zuschauerraum des altehrwürdigen Hamburger Schauspielhauses umgebaut werden musste).
Wiederaufnahmen:
Falls Sie in der Saison 2024/25 nicht alles gesehen haben – das eine oder andere können / sollten Sie in der nächsten Spielzeit nachholen:
Ballett:
Wer Katharina Torwestens grandiose Literatur-Bearbeitungen gesehen hat (Romeo und Julia, Glöckner von Notre Dame, Dschungelbuch, Das kalte Herz), der darf sich schon auf die nächste Spielzeit freuen:
Einerseits das Märchen Vom Fischer und seiner Frau, die Geschichte von der nicht zu stillenden Gier nach immer Mehr (die schon Günter Grass zu seinem – neben der Blechtrommel besten – Roman „Der Butt“ inspiriert hat), die Parabel von unendlichem Fortschritt und Wachstum, die in die Katastrophe führen. – Und im Gegensatz dazu die Figur des Don Quichotte, dieses „Ritters von der traurigen Gestalt“, der unbeirrt von den Launen und Meinungen einer schnöden Welt nur seinen Idealen folgt.
Und dann noch der Blick hinter die Kulissen: Licht aus, Spot an: Backstage! – „Wir machen uns nackt!“ – verspricht Katharina Torwesten. Was wohl nicht wörtlich zu verstehen ist. Aber auch ihre Ankündigung „Wir drehen das Theater auf links“ klingt schon vielversprechend genug.
Junges Theater
Wieder einmal tut das Landestheater auch eine Menge für die nächste(n) Generation(en), sowohl im Schauspiel als auch im Jungen Musiktheater:
Von den Kinderbuch-Klassikern Grüffelo, Frederick oder Petersson und Findus bis zur Uraufführung des Auftragswerkes Viel zu Feel. Besondere Highlights: Saint-Exupérys Der kleine Prinz und Mussorskys Bilder einer Ausstellung.
Und – seit mehreren Jahren auf dem Spielplan aber immer noch hoch-aktuell: Konstanze Kappensteins gelungene Version vom Tagebuch der Anne Frank.