La Forza dell’Amore
Liebes-Schmonzette im Wildwest-Saloon auf Detmolder Opernbühne
Puccinis "Fanciulla - Mädchen aus dem goldenen Westen"
Dem Western-Fan steht ein breites Spektrum an Medien zur Verfügung: Fernsehserien (die „Bonanza“-Familie reitet immer noch durch die Dritten Programme), Comics (die Kultreihe „Lucky Luke“ ist bei ca. Band 100), massenhaft Groschenhefte, ernstzunehmende Bücher (von Coopers „Lederstrumpf“ bis zu Browns „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“ – eigentlich ein Sachbuch, aber vor allem bekannt als Film-Vorlage) und, eben: Filme, vom Helden-Epos („12 Uhr mittags“) bis zur Klamauk-Serie um Bud Spencer und Terrence Hill.
Nur im Theater ist der Wilde Westen kaum präsent (von Freilichtspielen abgesehen: Winnetou I – LXXVIII), erst recht nicht in der Oper. Ein Versuch der Salzburger Festspiele, Mozart in einen Western-Saloon zu verpflanzen („Da Ponte in Santa Fé“, 2002), musste schon deshalb scheitern, weil der Autor Turrini in Österreich als Nestbeschmutzer ebenso verpönt war wie der Regisseur Peymann als Theater-Enfant-Terrible).
Eine herausragende Ausnahme ist Puccinis „La Fanciulla del West“ („Das Mädchen aus dem Goldenen Westen“) – ein Titel, dem man allerdings auch nur selten ohne das Adjektiv „selten gespielt“ begegnet. Dabei war die Uraufführung (1910 in New York an der Met, mit Toscanini am Pult und Caruso als Ramerrez) ein rauschender Erfolg.
Puccini war damals – nach den Erfolgen mit seinen großen Opern – während eines Amerika-Aufenthalts auf der Suche nach etwas Neuem – sowohl musikalisch als auch inhaltlich. Dabei stieß er auf das Schauspiel „The Girl of the Golden West“. Verfasser war David Belasco, ein erfolgreicher und vielseitiger Theatermensch und – nach Wikipedia - „ein Hauptvertreter des amerikanischen Melodramas“ (von ihm stammte auch die Vorlage zu Madama Butterfly).
„Melodrama“ klingt natürlich viel freundlicher als „Schmonzette“.
Melodrama oder Schmonzette – urteilen Sie selbst
Das Libretto vom „Mädchen aus dem Goldenen Westen“ versetzt uns ins Kalifornien der Jahre 1849/1850: Goldrausch! Nach ihrem harten Tagwerk treffen sich die Goldsucher in der Kneipe „Polka“. Es sind nicht nur die western-üblichen harten Kerle, sie sind auch rührselig, machen sich Sorgen um die ferne Familie, leiden unter Heimweh. Ansonsten entspricht die Kneipe dem Klischee des Western-Saloons: Mann trinkt Whiskey (pur!), prügelt sich, spielt Karten, versucht dabei zu betrügen. Dem Betrüger droht Lynchjustiz, doch der aufrechte Sheriff verhindert das Schlimmste und sorgt für Ordnung. Im Übrigen ist er – ebenso wie ein Agent der Wells-Fargo-Company – scharf darauf, den berüchtigten Bandenboss Ramerrez zu schnappen, der sich in der Gegend aufhalten soll.
Am vollkommenen Saloon-Klischee fehlen die Saloon-Girls, die Tänzerinnen/Sängerinnen. Stattdessen ist da die Wirtin Minnie, eine attraktive Mutter Teresa der Goldsucher: sie pflegt Kranke, tröstet bei Heimweh, schreibt Briefe für die Analphabeten und traktiert die Männer regelmäßig mit Bibelstunden und Moral- Predigten. Die Avancen des Sheriffs weist sie ab: sie wartet auf „den Richtigen“, sehnt sich nach der großen Liebe und einer glücklichen Ehe, so wie sie – in ihrer Erinnerung – zwischen ihren Eltern bestand.
Tatsächlich kommt der Richtige: Dick Johnson: Die beiden haben sich schon früher mal getroffen, und damals hat’s wohl heftig zwischen ihnen geknistert. Jetzt wird aus dem Knistern schnell lodernde Leidenschaft. Doch bis zum Happy End – und um die 2 ½ Stunden Opernzeit zu füllen – bedarf es noch der genre-üblichen retardierenden Momente. Also: tiefsinnige Gespräche – abendlicher Besuch Dicks in Minnies Hütte – der erste (für Minnie überhaupt der erste) Kuss – weitere tiefsinnige Gespräche – Auftritt des Sheriffs mit Prisenkommando: Dick Johnson ist in Wirklichkeit (man hat’s geahnt) der gesuchte Bandit Ramerrez – große Enttäuschung Minnies: sie schmeißt ihn raus, nimmt ihn aber wieder auf, als er angeschossen und schwer verwundet ist. Neue gute Gespräche: der Räuber ist kein schlechter Mensch! Er weist Mordvorwürfe zurück, hat nur gestohlen – und den Plan, die bei Minnie deponierten Goldfunde der Männer zu klauen, hat er aus Liebe bereits aufgegeben. Überhaupt: Er wurde nur zum Räuberhauptmann, weil er die Bande sozusagen von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte – Schuld ist also das Schicksal …
Aber keine Frage: Die Macht des Schicksals kommt letztlich nicht an gegen die Macht der Liebe! Unter dem segensreichen Einfluss Minnies wird Ramerrez endgültig zum guten Menschen.
Fehlt noch der dramatische Schluss:
Ramerrez wurde doch noch geschnappt und steht schon unter dem Galgen. Da kommt Minnie als Dea ex machina angesprengt (im Libretto: hoch zu Pferd). Showdown! Minnie steht mit ihrem Colt dem Lynchmob gegenüber. Doch es siegt nicht die Gewalt, vielmehr erntet Minnie die Früchte ihrer guten Taten und ihrer Moral-Lektionen („Jeder Mensch kann sich zum Guten verändern“): In einem rührseligen Appell erinnert Minnie an die vielen Wohltaten, die sie den Männern erwiesen hat. Einer nach dem andern schmilzt dahin. Endlich: Happy End. Das glückliche Paar reitet in die untergehende Sonne (schreitet auf der Detmolder Bühne in Richtung blendend-heller Leuchtstoffröhren). Ach ja: zurück bleiben die verwaisten Goldsucher, die ihre Mutter Teresa verloren haben.
Die Inszenierung – kritisch-ironisch?
Nun ja. Die "Fanciulla" steht nun mal auf dem Spielplan, der vor zwei Jahren entworfen wurde. Die neue Intendantin Kirsten Uttendorf eröffnet damit nicht nur die neue Spielzeit sondern überhaupt ihre Intendanz. Ob ihr was anderes lieber gewesen wäre? – Egal, als Theaterpraktikerin weiß sie: Jedes Stück ist so gut (oder so schlecht) wie seine Inszenierung (Altmeister Brecht: „The proof of the pudding is in the eating of the pudding“).
Die Verantwortlichen für die Detmolder Inszenierung (s.u.) sind allerdings „zunächst etwas befremdet“ und fragen sich:
„Wie können wir unsere Distanz zu den Klischees und Stereotypen in dieser Oper zeigen und gleichzeitig die Handlung ohne Verfälschung erzählen? Sie bruchlos als ‚Western‘ auf die Bühne zu bringen, ließe keinen Raum für kritische Auseinandersetzung“, erklären sie im Interview (den Rest sollten Sie im Programmheft nachlesen).
Mit – sagen wir mal: - kritischer Ironie und gelegentlichen Verfremdungseffekten schaffen sie Distanz zu der „Schmonzette“. Zunächst lösen sie sich von der vorgegebenen Epoche und versuchen, dem Stück eine Zeitlosigkeit zu verleihen. Dazu bedienen sie sich des Museums („… in dem man die unterschiedlichsten Dinge aus allen Zeiten und Gegenden in Ruhe betrachten kann …“):
Wenn sich der Vorhang öffnet, befinden wir uns im Radebeuler Karl-May-Museum (denke ich zunächst): In Schaukästen stehen lebensgroße Figuren: ein Tomahawk-schwingender Indianerhäuptling, seine bescheiden-zurückhaltende Squaw und ein gefesselter Weißer am Totempfahl=Marterpfahl (wobei die echten Indianer das Kulturgut Totempfahl nie als Marterpfahl missbraucht hätten).
Als Museumsbesucherin: ein junges Mädchen, welches – als das Museum entschwindet – auf der Bühne verbleibt und die Handlung als stummer Gast begleitet. Mal illustriert sie mit einer kleinen Spielszene eine Jugenderinnerung Minnies, meist aber sitzt sie ruhig in einer Ecke, liest zeitweise in einem Comic (Lucky Luke?).
Ein vorsichtiger Interpretations-Versuch: Es handelt sich um Minnie in jungen Jahren, die – angeregt durch’s Museum – sich eine Zukunft im Wilden Westen erträumt.
Aus dem Programmheft erfahren wir dann: Wir befinden uns keineswegs im Karl-May-Museum, sondern in der „Wells Fargo Orginal Californian Diorama Show“ (zu der sich weder in Google noch im deutschen oder englischen Wikipedia Informationen finden). Und in der Detmolder Version führt Minnie keinen Western-Saloon, sondern die Kantine eben dieses Show-Unternehmens, in welcher sich die Angestellten nach Feierabend treffen.
Ob die Opernhandlung immer bruchlos in den Wells-Fargo-Rahmen passt, soll dahingestellt bleiben. Ohnehin beginnt jetzt eine Zeitreise, bei der Anachronismen eigentlich unvermeidlich sind. Dies beginnt mit der Ankunft Dick Johnsons alias Ramerrez:
Anstelle von Cowboyhut, Halstuch und Sechs-Schüsser trägt dieser Maske, Umhang und Degen – kein Wildwest-Bandit, sondern Zorro, ein edler Kämpfer für Menschlichkeit und Gerechtigkeit (welcher das Licht der literarischen Welt übrigens erst knapp 10 Jahre nach der Fanciulla-Uraufführung erblickte). Und der ist nicht der einzige Eindringling in die Minnie-Welt:
Zwischen die Saloon-/Kasino-Gäste mischt sich nicht nur Lucky Luke, der Mann, der schneller zieht als sein Schatten, sondern auch dessen Erzfeinde, das Dalton-Brüder-Quartett. So mancher Kenner mag andere alte Bekannte entdecken: Minnie in Annie-get-your-gun-Pose etwa, oder die Leningrad-Cowboys mit ihren markanten Frisuren.
Beim Übergang zum zweiten Akt machen wir dann einen Riesen-Zeitsprung: Minnies Hütte ist im Stil der 1970er Jahre eingerichtet: Weil es damals „die poppigsten Einrichtungen und Designs“ gab und weil es „eine Zeit der Freiheit, auch der sexuellen Befreiung“ war (Bühnenbildnerin Hieronimus). Prompt ziehen sich Minnie und Dick (ein kleines bisschen) aus und schlüpfen gemeinsam unter die Decke, anstatt zu „plaudern“ (mehr passiert aber wohl nicht – als der Sheriff die beiden aus dem Bett wirft, tragen beide immer noch ihre spießige Unterwäsche).
Im dritten Akt wird schließlich der Rahmen geschlossen, der zu Beginn mit den Wells-Fargo-Dioramen geöffnet wurde. Schon vorher wurde die Handlungsillusion des Publikums gelegentlich durch Verfremdungseffekte zerstört: Wenn etwa die Post nicht mit der legendären Wells-Fargo-Postkutsche kommt, noch nicht mal mit dem ebenso legendären Pony-Express, sondern von einem Postillon auf dem Steckenpferd. Oder wenn die Figuren im Diorama plötzlich Feierabend machen und damit die Frage „Puppen oder Schauspieler“ beantworten.
Jetzt ist endgültig Schluss mit dem Illusionstheater: Wir sind plötzlich nicht mehr in Kalifornien, sondern 10 Autostunden entfernt im Monument Valley, dem Lieblingsschauplatz von Westernfilmen. Aber das ist egal, denn es ist eh klar, dass die markanten Felsen nur gemalt sind. In der Opernhandlung wird die finale dramatische Auseinandersetzung um Ramerrez‘ Leben geführt – gleichzeitig steigen Bühnenarbeiter auf die Alu-Leiter, um letzte Hand die Kulissen zu legen …
Wokes Landestheater
Anno 1910 war es wohl normal, dass auch eine Goldgräber-Kommune klar rassistisch geschichtet war:
weiße Angloamerikaner > Spanier > Mexikaner und Mestizen > „Eingeborene“
Dem Regisseur ist spürbar unwohl beim Gedanken daran. Seine Lösung: er ignoriert die Rassenfrage einfach. Und das gelingt ihm ganz gut. „Billy Jackrabbit“ ist im Rollenverzeichnis eigentlich mit dem Prädikat „eine Rothaut“ versehen – in Detmold steht einfach nur sein Name; ebenso bei Wowkle, die sonst als „seine Frau“ und im Übrigen als „Minnies Dienerin“ bezeichnet wird. Hier ist sie Minnies Freundin (also wohl eine Weiße); und dass die beiden ein gebrochenes Indianer-Pidgin-Englisch sprechen, kann man bei der Übersetzung vom Italienischen ins Deutsche unterschlagen.
Auf ein „Red-Facing“ oder „Brown-Facing“ kann ohne weiteres verzichtet werden. Ohnehin ist das Detmolder Publikum an rassistische Klischees nicht gewöhnt: Die Musikhochschule hier hat viele Studenten und Absolventinnen aus Ostasien, und der eine oder die andere beginnt die Karriere am Detmolder Theater. So waren im „Wildschütz“ sowohl der kleinbürgerliche Held als auch der Baron Koreaner; auch ein Wirt vom „Wilden Mann“ wird mal von einem Koreaner, ein englischer Lord mal von einem Chinesen gesungen, ohne dass jemand davon groß Notiz nähme. Und so wird in Fanciulla der Hauptdarsteller von Ji-Woon Kim gesungen, der Sänger rührseliger Balladen von Euichan Jeong, die „Rothaut“ von Hojin Chung und so weiter …
La Forza della Musica
„Den Inszenierungs-Quatsch blende ich aus. Ich mach‘ die Augen zu und genieße die Musik“, sagte mir mal ein Angehöriger des Detmolder Kultur-Bürgertums in der Pause einer – ungewöhnlich inszenierten – Wagner-Oper.
Unter denen, die nicht ins Theater gehen, um eine Oper zu sehen, sondern um sie zu hören, mag so mancher Puccinis-Fan sein, der dann auch in dieser Detmolder Fanciulla voll auf seine Kosten kommt. Wobei hier ein „neuer“ Puccini zu erleben ist:
Laut Detmolder Programmheft wollte er „eine Oper schaffen in einer Musiksprache, wie man sie von ihm noch nicht kannte. Sie solle farbenreich sein und … Situationen zeichnen können, die rasch wechseln, und Figuren mit Stimmungsschwankungen charakterisieren. Starke Emotionen und Gefühlsausbrüche sollten die Entwicklung vorantreiben … … Die Musik der Oper ist geprägt von starken Kontrasten …“
Der Komponist selbst war mit dem Ergebnis zufrieden: Dies sei „die beste Oper, die ich jemals geschrieben habe“. Und mit Blick auf den umstrittenen Text meint Reclams Opernführer (1969), es seien Puccinis „verfeinerte musikalische Mittel“, die ihn zum „künstlerischen Veredler des reißerischen Inhalts erheben“.
Wird also die kreative Inszenierung zum Erlebnis, so wird die Musik zum Genuss – wozu alle Beteiligten nach Kräften beitragen: von Francesco Damiani mit seinem stimmgewaltigen Chor über das Orchester unter der bewährten Leitung Per-Otto Johanssons bis hin zur Riege der Sängerinnen und Sänger, allen voran die – auch als Darstellerin und Sängerin – „Heldin des Abends“, Eleonore Marguerre, nebst ihren Partnern Ji-Woon Kim und Jonah Spungin.
Der Premieren-Beifall …
… war dann eher begeistert als nur freundlich – was möglicherweise zu einem guten Teil der Musik geschuldet war, aber auch (wie ich hoffe) der ideenreichen Inszenierung; und schließlich: wer wäre ich, dass ich einem erklecklichen Teil des Publikums seine Begeisterung absprechen wollte für diese „mitreißende Kombination aus hochemotionalem Liebesdrama und packendem Western“ (Landestheater-Reklame)?!
Das Mädchen aus dem Goldenen Westen
La fanciulla del West
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Oper in drei Akten von Giacomo Puccini
Libretto von Guelfo Civinini und Carlo Zangarini nach David Belasco
In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Besetzung
Musikalische Leitung Per-Otto Johansson
Inszenierung Kay Link
Bühne Katrin Hieronimus
Kostüme Jule Dohrn-van Rossum
Dramaturgie Bernhard Lenort
Chor Francesco Damiani
Minnie Eleonore Marguerre
Jack Rance, Sheriff Jonah Spungin
Dick Johnson Ji-Woon Kim
Nick Stephen Chambers
Ashby Jaime Mondaca Galaz
Sonora Andreas Jören
Trin Nikos Striezel
Sid Florian Zanger
Bello Ognjen Milivojsa
Harry Felix Schmidt
Joe Lifan Yang
Happy Bioh Jang
Larkens Torsten Lück
Billy Jackrabbit Hojin Chung
Wowkle Franziska Pfalzgraf
Jake Wallace, Sänger Euichan Jeong
José Castro Franco Oportus Vergara
Das Mädchen Lea Seidensticker, Lotta Donat, Nika Wesch-Potente
Symphonisches Orchester, Opernchor und Extrachor des Landestheaters
Statisterie
Weitere Termine
So., 22. September 2024, 19:30 Uhr
Sa, 28. September 2024,19:30 Uhr
Sa., 05. Oktober 2024, 19:30 Uhr
Di., 29. Oktober 2024, 19:30 Uhr, Wolfsburg
Fr., 01. November 2024, 19:30 Uhr
Sa., 09. November 2024, 19:30 Uhr
So., 24. November 2024, 19:30 Uhr
Mi., 11. Dezember 2024, 19:30 Uhr
Sa., 28. Dezember 2024, 19:30 Uhr
Do., 27. März 2025, 19:30 Uhr
Fr., 11. April 2025, 19:30 Uhr
So., 27. April 2025, 19:30 Uhr, Bad Oeynhausen
.ohne Gewähr - s. Landestheater-Terminkalender -
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